Märchen

 

Die Uiguren kennen viele Märchen, die auch wir kennen. Grimms Märchen wie Rotkäppchen, Schneewittchen und Aschenputtel lieben uigurische Kinder ebenso wie deutsche, während chinesische oder zentralasiatische Märchen bei uns kaum bekannt sind. Manche Märchen erzählt man sich in vielen Ländern der Welt in abgewandelter Form oder es tauchen nur gewisse Elemente in unterschiedlichen Zusammenhängen auf. Eine Hydra mit sieben Köpfen gab es zum Beispiel schon in der griechischen Mythologie. Auch Märchen aus Portugal[1], Rumänien[2] und Sizilien[3], selbst aus Afrika[4] erzählen von Drachen oder Ungeheuern mit sieben Köpfen, und sogar Johannes berichtet in der Apokalypse von einem Tier mit sieben Köpfen.

Ein uigurisches Märchen geht so:

 

Chin Tömür Batur

Der Bruder, der so stark war wie Eisen

Vor langer, langer Zeit lebten einmal ein Bruder und eine Schwester in einem großen Wald in den Bergen. Sie waren die Kinder des Königs, doch ihre böse Stiefmutter hatte sie ausgesetzt, als sie noch sehr klein gewesen waren. Dann hatte eine Bärin sie im dichten Buschwerk gefunden und wie ihre eigenen Kinder aufgezogen, so dass Chin Tömür Batur, der Bruder, nun zu einem tüchtigen Jäger herangewachsen war und seine Schwester Mehtumsula alle Kräuter und Beeren des Waldes kannte. Batur war mutig und stark wie Eisen und Mehtumsula so schön wie der Sonnenaufgang. Wenn sie sang, öffneten sich alle Blumen und lauschten ihrer Stimme.

Wenn Batur mit seinem Hund auf die Jagd gehen wollte, pflegte er seine Schwester stets zu beschwören, vorsichtig zu sein, weil er um ihre Sicherheit fürchtete. „Geh nicht aus dem Haus und lass niemanden herein“, sagte er. „Achte darauf, dass das Feuer nicht ausgeht und nimm von keinem Fremden Feuer an!“ Dann sattelte er sein Pferd, hängte sein Schwert um, stieg auf und machte sich mit seinem Hund auf den Weg. Mehtumsula blieb allein zurück.

An einem Morgen, nachdem Batur fortgeritten war, nahm sie einen Topf mit Wasser und stellte ihn auf den Herd, weil sie sich das Haar waschen wollte. Doch die Katze sprang ungestüm durchs Haus, stieß gegen den Topf, so dass er umkippte und das Feuer erlosch. „Was soll ich tun?“, fragte sich das Mädchen besorgt. „Ohne Feuer kann ich nicht kochen und ich muss doch bis zum Abend für meinen Bruder eine Mahlzeit bereiten.“ Sie kletterte auf das Dach des kleinen Hauses und schaute sich nach allen Seiten um. Vielleicht lebte ja jemand in der Nähe, der ihr helfen könnte. Und tatsächlich: Im Osten entdeckte sie eine Hütte, aus deren Schornstein Rauch aufstieg. Mehtumsula dachte an die Mahnung ihres Bruders, sagte sich jedoch, dass wohl keine Gefahr bestehe, wenn sie nur für wenige Minuten das Haus verlasse, und sie machte sich auf den Weg. In der Hütte stand eine hutzelige, altersgebeugte Frau, die sich an ihrem Herd zu schaffen machte.

„Guten Tag, Mütterchen“, grüßte Mehtumsula. „Guten Tag, mein Kind“, erwiderte die Alte. „Was machst du hier? Woher kommst du? Brauchst du Hilfe?“

Das Mädchen freute sich, mit jemandem sprechen zu können, und erzählte freimütig, dass sie Chin Tömür Baturs Schwester sei, dass ihr Bruder mit Pferd und Hund auf die Jagd gegangen sei und dass sie nun kein Feuer habe, um Essen zu kochen.

„Da helfe ich dir gern, mein Kind“, tröstete die Frau. „Warte, ich gebe dir einen Kienspan, den ich an beiden Enden mit Pferdemist bestreiche und anzünde, damit du gleich zwei Feuer hast. Du musst ihn mit dem Mund festhalten, so dass du in den Händen die Körner tragen kannst, die ich dir schenken möchte.“

Mehtumsula wunderte sich, nahm aber gehorsam den Kienspan in den Mund und die Körner in die Hände.

„Nun lauf nach Hause“, sagte die alte Frau freundlich. „Sieh dich nicht um, damit das Feuer nicht ausgeht, und achte auf deine Schritte, damit die Körner nicht herunterfallen!“

Aber natürlich fielen die Körner herunter, denn der Waldboden war uneben und voller Wurzelwerk. Doch genau das hatte die Alte beabsichtigt, denn sie war in Wirklichkeit keine gute Frau, sondern eine Hexe und die Körner sollten in der Erde keimen und sprießen, damit sie den Weg zum Haus von Mehtumsula und Chin Tömür Batur finden konnte.

Zu Hause machte Mehtumsula sogleich ein Feuer im Herd, dann begann sie das Abendessen für ihren Bruder vorzubereiten, doch es wurde spät und er kam nicht. Nachdem sie schon lange Zeit gewartet hatte, klopfte es plötzlich an der Tür. „Wer ist da?“, fragte das Mädchen erschrocken, denn sie hatte noch nie Besuch von einem Fremden bekommen. „Ich bin es, deine Nachbarin“, kam die Antwort. „Ich darf niemanden hereinlassen“, sagte Mehtumsula. „Mein Bruder hat es verboten.“

„Ist Batur zu Hause? Ist sein Pferd im Stall? Hängt sein Schwert an der Wand? Wacht der Hund an der Tür?“ „Nein“, erwiderte Mehtumsula. „Batur ist nicht zu Hause. Sein Pferd ist nicht im Stall. Sein Schwert hängt nicht an der Wand. Der Hund wacht nicht an der Tür.“ „Dann lass mich herein. Er sieht es ja nicht.“

Mehtumsula zögerte, doch da sie sich an diesem Abend sehr allein fühlte und der Bruder so lange fortblieb, öffnete sie schließlich die Tür. In diesem Augenblick verwandelte sich die alte Frau in ein Ungeheuer mit sieben Köpfen. Es stürzte ins Haus herein, setzte sich an den Tisch und aß alles Fleisch auf, das da stand. Dann packte es das Mädchen an den Füßen, hängte es an einem Haken auf, biss ihm ins Bein und schlürfte voller Wollust sein Blut. Als das siebenköpfige Ungeheuer genug getrunken hatte, stellte es Mehtumsula wieder auf den Boden und befahl: „Sag niemandem, dass ich hier war! Sag niemandem, dass ich von deinem Blut getrunken habe! Wenn du nur ein einziges Wort sagst, werde ich dich töten, selbst wenn du tausend Leben hättest.“ Dann eilte es fort.

Mehtumsula weinte bitterlich. Was hatte sie nur getan? Ihr Bruder hatte sie gewarnt, aber sie hatte nicht auf ihn gehört und nun wusste sie sich keinen Rat. Sie hatte furchtbare Angst und hoffte, dass Batur bald zurückkommen würde. Aber er kam nicht. Auch am nächsten Abend kam er nicht nach Hause. Aber als sie das Essen fertig gekocht hatte, klopfte es wieder an der Tür.

„Ist Batur zu Hause? Ist sein Pferd im Stall? Hängt sein Schwert an der Wand? Wacht der Hund an der Tür?“ „Nein“, erwiderte Mehtumsula. „Batur ist nicht zu Hause. Sein Pferd ist nicht im Stall. Sein Schwert hängt nicht an der Wand. Der Hund wacht nicht an der Tür.“ „Dann lass mich herein. Sonst töte ich dich.“

Und wieder öffnete Mehtumsula die Tür, wieder aß das siebenköpfige Ungeheuer alles Essen auf, hängte das Mädchen an den Haken und trank von seinem Blut. Sechs Tage lang ging es so: Jeden Abend kam die alte Frau und wurde zu einem Ungeheuer, sobald sie das Haus betreten hatte, und jedes Mal trank sie vom Blut des Mädchens. Mehtumsula wurde schwach und immer schwächer. Sie bebte jeden Abend vor Angst, wenn es klopfte und die Hexe rief:

„Ist Batur zu Hause? Ist sein Pferd im Stall? Hängt sein Schwert an der Wand? Wacht der Hund an der Tür?“ Trotzdem erwiderte sie jedes Mal: „Nein, Batur ist nicht zu Hause. Sein Pferd ist nicht im Stall. Sein Schwert hängt nicht an der Wand. Der Hund wacht nicht an der Tür.“

Am siebten Tag kehrte Batur heim. Er erschrak, als er seine Schwester sah, und fragte: „Was ist geschehen? Wer hat dir etwas angetan, Schwester, dass du so weiß bist wie eine Wand und so dürr wie ein Reisig?“ Mehtumsula konnte kaum sprechen, doch ihr Bruder gab nicht nach, bis sie ihren Fehler gestand und von dem Ungeheuer erzählte, das jeden Abend von ihrem Blut trank.

„Ich muss es töten!“, rief er voller Zorn. „Ich wäre nicht Chin Tömür Batur, der so stark wie Eisen ist, wenn ich dieses Untier nicht besiegen könnte, selbst wenn es tausend Köpfe hätte!“ Dann überlegte er kurz und entschied: „Sag niemand, dass ich hier war! Ich werde mich mit meinem Pferd und meinem Hund verstecken, und wenn die Hexe kommt und ihre Fragen stellt, antwortest du wie immer.“ Danach rüstete er sich, legte sieben Panzer an, setzte sieben Helme auf und schärfte sieben Schwerter. Sein Pferd und sein Hund hatten alles verstanden und verbargen sich kampfbereit mit ihrem Herrn hinter dem Haus. Am Abend kam die Hexe und klopfte an Mehtumsulas Tür:

„Ist Batur zu Hause? Ist sein Pferd im Stall? Hängt sein Schwert an der Wand? Wacht der Hund an der Tür?“ Mehtumsula antwortete wie jedes Mal: „Nein, Batur ist nicht zu Hause. Sein Pferd ist nicht im Stall. Sein Schwert hängt nicht an der Wand. Der Hund wacht nicht an der Tür.“

Dann öffnete sie die Tür. Die Hexe trat ein und verwandelte sich augenblicklich in das siebenköpfige Ungeheuer. Doch dann blieb es unvermittelt stehen. „Du lügst“, zürnte es und schnüffelte. „Ich rieche es: Er war hier!“ „Nein“, erwiderte das Mädchen, „du siehst doch, dass er nicht hier ist. Wenn er hier wäre, müsste ja sein Pferd im Stall stehen, sein Schwert an der Wand hängen und sein Hund an der Tür wachen. Aber er ist nicht hier.“ „Doch, er muss  hier sein! Ich rieche es.“ „Heute Morgen habe ich seine Hose und sein Hemd gewaschen“, versuchte Mehtumsula zu erklären, „vielleicht riecht es deshalb nach ihm.“ Da beruhigte sich das Ungeheuer und setzte sich an den Tisch, um zu essen.

In diesem Augenblick kam Batur ins Haus, stellte sich dem Ungeheuer entgegen und schlug ihm mit seinem Schwert einen Kopf ab. Da schrie es aus sechs Mäulern: „Ich hab‘s gewusst! Mehtumsula hat mich belogen und Batur ist heimgekehrt.“ Wutentbrannt stürzte es zur Tür. „Einen  Kopf hast du mir genommen, aber ich habe noch sechs! Warte! Du wirst mich niemals töten können!“, brüllte es böse und verschwand.

Am folgenden Tag kam die Hexe wieder und wieder fragte sie:

„Ist Batur zu Hause? Ist sein Pferd im Stall? Hängt sein Schwert an der Wand? Wacht der Hund an der Tür?“ Mehtumsula antwortete: „Nein, Batur ist nicht zu Hause. Sein Pferd ist nicht im Stall. Sein Schwert hängt nicht an der Wand. Der Hund wacht nicht an der Tür.“ Und wieder murrte die Hexe: „Du lügst, ich rieche es.“ Da erklärte das Mädchen beruhigend: „Ich habe mit dem Waschwasser von gestern das Haus geputzt. Vielleicht riecht es deshalb nach ihm.“ Und wieder sprang Batur aus dem Dunkel, als das Ungeheuer sich zum Essen setzen wollte. Es fuhr erschrocken herum und wehrte sich. Beide rangen lange miteinander, aber am Ende konnte Batur ihm den zweiten Kopf abschlagen.

So ging es jeden Abend. Jeden Abend versteckte sich Batur mit seinem Pferd und seinem Hund. Jeden Abend kam die Hexe, klopfte an Mehtumsulas Tür, stellte die gleichen Fragen und jeden Abend gab das Mädchen die gleichen Antworten. Jeden Abend ließ sich die Hexe beruhigen und kam ins Haus und jeden Abend sprang Batur aus seinem Versteck und schlug dem Ungeheuer einen Kopf ab. Die Kämpfe wurden immer heftiger. Das Ungeheuer wehrte sich mit all seiner Kraft, und je weniger Köpfe es hatte, desto wilder wurde es.

Am siebten Tag, als es nur noch einen einzigen Kopf hatte, kämpften sie die ganze Nacht hindurch, denn auf diesem letzten Kopf saß ein großes, spitzes Horn, das allen Schwerthieben standhielt. Keiner von beiden konnte siegen und keiner von beiden wollte aufgeben. Als der Morgen graute, erhob sich das Ungeheuer plötzlich in die Luft und entschwand durch den Schornstein. Batur rannte zur Tür hinaus. Er sprang auf sein Pferd. Er trieb das Ungeheuer durch den Wald, hetzte es, bis es keine Luft mehr hatte. Der Hund packte sein Bein, biss zu, hielt es fest, bis Batur vom Pferd gesprungen war und sich auf seinen Gegner geworfen hatte. Sie rangen miteinander. Sie rangen, bis die Sonne aufging. Das Ungeheuer kämpfte um sein Leben, doch die Kräfte gingen ihm aus, es wand sich, brüllte, röchelte, die Augen traten aus ihren Höhlen, es tat einen letzten zitternden Atemzug, als ihm der Hund die Kehle durchbiss. Chin Tömür Batur, der so stark war wie Eisen, holte mit seinem Schwert aus und hieb dem sterbenden Ungeheuer den siebten Kopf ab.

Dann kehrte er mit seinem Pferd und seinem Hund heim und lebte weiterhin in Glück und Frieden mit seiner Schwester Mehtumsula, die nie wieder einen Fremden ins Haus ließ.

 

Weitere Märchen:

 

Turdikhari und der König

Der Lama und der Zimmermann

Das Kamel, das um sein Geweih betrogen wurde



[1] http://www.hekaya.de/maerchen/der-drache-mit-den-sieben-koepfen--europa_128.html

[2] http://www.hekaya.de/maerchen/der-drache-mit-den-sieben-koepfen--europa_129.html

[3] http://maerchenbasar.de/klassische-maerchen/mitteleuropa/italien/2094-von-dem-der-den-lindwurm-mit-sieben-koepfen-toedtete.html

[4][4] Märchen und Erzählungen der Suaheli. Carl Velten, 1898. Neuausgabe: Karl-Maria Guth, Berlin 2014