Flucht

Mustafa Sari

 

Fatime ging, so schnell sie konnte. Nach den Warnungen des Direktors des Instituts hatte sie das Gebäude sofort verlassen und eilte nun mit gesenktem Kopf, beinahe laufend, in Richtung des Wohnheims. „Was, wenn ich einfach renne?“ dachte sie und machte ein paar schnelle Schritte, hielt jedoch sofort wieder inne. Falls sich in der Nähe ein Polizist befand, wollte sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Während sie langsam weiterging, dachte sie an das, was der Direktor gesagt hatte. „Ich bin also eine ungeeignete Studentin, meint er." Aber noch mehr als  diese Warnung hallten die Worte ihrer Freundin Mahire in ihrem Kopf nach:

  „Als wir Kinder waren und das Kuçar-Brot teilten, das meine Großmutter gebacken hatte, war Mahire meine Freundin. Sie aß immer die Mitte des Brotes, während ich die dickeren Ränder nahm. Ich dachte, das würde mich meinem Traum, eines Tages ins Ausland zu reisen, näherbringen. Welch alberner Glaube! Es war nur Kindheitsfantasie. Wie alle Menschen hat auch Mahire sich verändert. Aber wenigstens weiß ich jetzt, dass sie nicht länger meine Freundin ist.“ 

  Sie waren so lange Freundinnen gewesen, wie Fatime sich erinnern konnte. Von der Grundschule über die Mittel- und Oberschule hatten sie immer dieselbe Klasse besucht. Jetzt studierten sie zusammen im Ingenieurstudiengang an der Universität von Xinjiang. In der Klasse waren sie die einzigen uigurischen Studentinnen. Fatime hatte keine Ahnung gehabt, dass sie als „ungeeignet“ angesehen wurde, bis sie verstand, warum ihre Freundin sie mied. Später erfuhr sie, dass die Behörden bereits eine dicke Akte über sie angelegt hatten, als sie das Studium begann, denn wegen ihrer Tante stand ihre ganze Familie unter Beobachtung und bereits in ihrer ersten Studienwoche hatte die Polizei der Fakultät aufgetragen: „Beobachten Sie dieses Mädchen.“

  Eines Morgens, vor etwa einem Monat, kam Fatime ins Klassenzimmer und bemerkte, dass die anderen Mädchen nicht da waren. Sie vermutete, dass sie zu einer Geburtstagsfeier gegangen seien, ohne sie einzuladen. „Sollen sie doch,“ dachte sie und kümmerte sich nicht weiter darum. Wie gewöhnlich setzte sie sich in den hinteren Teil des Klassenzimmers und las während des Unterrichts in ihrem Buch. Doch in den darauffolgenden Tagen und Wochen fiel ihr auf, dass selbst ihre engste Freundin Mahire sie mied, und sie begann zu ahnen, dass etwas nicht stimmte.

  Eines Tages traf sie Mahire zufällig auf der Toilette. Mahire sagte: „Was willst du? Warum lässt du mich nicht in Ruhe? Letzten Monat hat die Polizei alle Mädchen von uns verhört. Sie fragten, welche Bücher du liest, mit wem du Zeit verbringst und wohin du gehst. Mein Vater ist nicht reich wie deiner; er kann es sich nicht so leicht leisten, mich studieren zu lassen. Ich will nicht wegen dir in Schwierigkeiten geraten.“ An diesem Tag verstand Fatime, warum niemand mit ihr in Verbindung gebracht werden wollte: aus Angst, von der Polizei überwacht zu werden.

  Als sie ihre Freundin verließ und ins Klassenzimmer zurückging, wurde Fatime klar, dass Mahire vielleicht recht hatte. Ihre Familie war arm und opferte viel, damit sie an der Universität in der Stadt studieren konnte. Fatimes Vater betrieb ein Restaurant, und da die Chinesen uigurisches Essen mochten, verdiente er gut.

  Nun verstand Fatime, warum ihre Klassenkameraden sie seit über einem Monat mieden. Selbst die Lehrer, an die sie sich im Flur oder in deren Büros mit Fragen wandte, fanden fadenscheinige Ausreden, um sie abzuweisen.

  Vielleicht, weil sie nicht aufgegeben und die Schule freiwillig verlassen hatte, oder vielleicht aus echter Fürsorge, schickte der Direktor der Institution noch am selben Abend einen Hausmeister, um sie in sein Büro zu rufen. Der Direktor erzählte ihr, dass ihre Tante Gedichte und Artikel in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht habe, um die Uiguren zu Aufständen aufzuwiegeln. Doch ihre Tante hatte immer gesagt: „Ich schreibe, um mein Volk aufzuklären, ihre Kultur zu bewahren und zu verhindern, dass sie unter dem Druck Chinas assimiliert werden.“ Deshalb war sie ins Visier der Behörden geraten, verhaftet worden und hatte später die Möglichkeit zur Flucht in die USA gefunden.

  Laut dem Institutsdirektor vermutete die Polizei, dass Fatime, ebenso wie ihre Tante, eine amerikanische Agentin war.

  Fatime bestritt dies und erklärte, dass sie eine hundertprozentige Kommunistin sei und der Kommunistischen Partei mit ganzem Herzen loyal diene. „Außerdem,“ sagte sie, „habe ich meine Tante nicht mehr gesehen, seit sich meine Eltern scheiden ließen. Meine Mutter lebt in Peking, und auch mit ihr habe ich keinen Kontakt.“

  Der Direktor des Instituts sah sie skeptisch an und beendete das Gespräch mit den Worten: „Ich habe gesagt, was ich sagen wollte, der Rest liegt an dir. Pass auf, was du tust.“

  Fatime erkannte den Ernst der Lage erst, als sie das Institut verließ und sich auf den Weg zum Wohnheim machte. Mit jedem Schritt wuchs ihre Sorge und beschleunigte sich ihr Herzschlag. Als sie in ihrem Zimmer ankam, bemerkte sie, dass ihr Bett verschoben worden war und ihr Metallschrank offen stand. Der Inhalt lag verstreut auf dem Boden. Allerdings hatte man das chinesische Buch Meine westliche Region, dein Ostturkestan nicht gefunden, das ganz hinten im untersten Regal des Schranks versteckt war.

  Dieses Buch hatte sie vor ihrem Studium von einem Buchhändler in Ürümqi bekommen, der es ihr heimlich zugespielt hatte. Hätten sie das Buch gefunden, dann hätten sie sicherlich eine weitere Anschuldigung gegen sie konstruiert, nur weil sie es gelesen hatte. Fatime lächelte, stellte ihr Bett zurück und räumte ihren Schrank auf.

  Im nächsten Monat versuchte sie zu ignorieren, dass sowohl Lehrer als auch Schüler sie behandelten, als hätte sie die Pest. Doch sie spürte immer mehr, dass die Isolation und Einsamkeit unerträglich wurden. Sie fühlte sich erstickt. Die Schule, die sie anfangs mit Leichtigkeit und Freude betreten hatte, war zu einem Ort geworden, an dem sie kaum noch atmen konnte. Ihre Studienleistungen verschlechterten sich spürbar.

  Als die Einsamkeit überhandnahm, fuhr sie an einem Wochenende nach Hause und erzählte ihrem Vater von der Situation. Er versuchte, sie zu trösten, indem er ihr sagte, sie solle durchhalten. Mit der Zeit würde die Polizei erkennen, dass sie keine Bedrohung darstellte, und sie in Ruhe lassen. Danach würden sich ihre Beziehungen zu Freunden und Lehrern wieder verbessern.

  Fatime kehrte zur Schule zurück und versuchte, den Rat ihres Vaters zu befolgen, aber sie fühlte sich wie gefangen. Als die Situation unerträglich wurde, begann sie, den Unterricht zu schwänzen und verbrachte ihre Zeit stattdessen in Einkaufszentren. Nach drei Wochen beschloss sie, nach Peking zu reisen, um ihre Mutter zu treffen. Doch wie sollte sie den Polizisten entkommen, die ihr auf Schritt und Tritt folgten?

  Sie plante eine indirekte Route, um sie in die Irre zu führen. In dieser Woche entwarf sie eine Strategie. Am Freitag würde sie nach Qomul fahren. Noch in derselben Nacht wollte sie durch ein Hinterfenster entkommen und einen Bus nach Lanzhou nehmen, von wo aus sie nach Peking fliegen würde. Auf diese Weise würden die Polizisten, wenn sie bemerkten, dass sie Xinjiang verlassen hatte, zu ihrer Überwachung des Wohnheims zurückkehren. Bis sie schließlich realisierten, dass sie nicht mehr in Xinjiang war, wäre Fatime bereits in Peking bei ihrer Mutter. Und wenn sie ihre Abwesenheit in Peking meldeten, wäre sie am Montag bereits zurück in Ürümqi.

  Der Plan funktionierte genau wie vorgesehen. Nach einem erfolgreichen Katz-und-Maus-Spiel konnte sie ihre Mutter treffen und am Montagmorgen wieder im Klassenzimmer sein. Es war sogar etwas Positives geschehen – bereits am Dienstag derselben Woche hörte die Polizei auf, sie zu überwachen, da sie sie nicht mehr als Bedrohung ansahen.

 

Doch Fatime war nicht mehr dieselbe wie vorher. Anders als ihr Vater, der glaubte, dass sich mit der Zeit alles regeln würde, hatte ihre Mutter gesagt, dass die Polizei sie niemals in Ruhe lassen würde und dass sie versuchen sollte, das Land zu verlassen. Ihre Mutter schlug vor, dass Fatime in die Türkei gehen sollte, da dies einfacher wäre als in die USA  und außerdem sicherer für eine junge uigurische Frau.

  Die nächsten Wochen widmete Fatime der Planung ihrer Reise in die Türkei. Doch jeder Plan scheiterte an einem Hindernis: Sie brauchte einen Pass, und an einen solchen zu gelangen, schien unmöglich. Wäre sie nicht wegen ihrer Tante unter Beobachtung gestanden, hätte sie vielleicht eine Lösung gefunden, selbst als Uigurin.

  Gerade als ihre Hoffnung zu schwinden begann, stieß sie zufällig auf eine Nachricht im Internet.

  Eine Universität in Russland, von der sie noch nie gehört hatte, bot ein Austauschprogramm an. Eine Vermittlungsagentur half bei der Visumsbeschaffung. Fatime schickte ihre Studienunterlagen und ihre persönlichen Daten über die Webseite und erhielt die Dokumente, die sie für die Beantragung eines Reisepasses bei der Polizeistation in Ürümqi benötigte.

  Nachdem sie sich einen Tag freigenommen hatte, kehrte sie ins Klassenzimmer zurück und setzte ihr gewohntes Leben fort, das hauptsächlich daraus bestand, hinten im Raum Bücher zu lesen. Doch eine Woche später konnte sie nicht widerstehen und rief die Polizeistation an, um nach ihrem Pass zu fragen. Alle zwei oder drei Tage rief sie an, erhielt jedoch keine Antwort.

  Nach einem Monat, an einem Donnerstagmorgen, als ihre Hoffnung fast erloschen war, erhielt sie plötzlich eine SMS:

  „Ihr Pass ist fertig. Sie können ihn bei der zuständigen Abteilung auf unserer Polizeistation abholen.“

  An diesem Tag war sie so aufgeregt, dass sie nicht einmal ihre Bücher lesen konnte.

  Am nächsten Morgen holte sie ihren Pass ab, ohne jemandem etwas davon zu erzählen. Am Wochenende, als sie Zeit mit ihrem Vater verbrachte, bat sie ihn um eine größere Geldsumme und nannte verschiedene erfundene Ausgaben als Ausrede. Obwohl sie bereits eine Kreditkarte mit einem großzügigen Limit hatte, das auf ihren Namen ausgestellt war, benötigte sie manchmal Bargeld. Mit dem Geld kehrte sie zurück zur Schule.

  Am Montag nach der Schule kaufte sie ein Flugticket nach Moskau mit Anschluss nach Istanbul. Obwohl die Polizei aufgehört hatte, ihr physisch zu folgen, hatte sie ihre Überwachung nicht eingestellt. Am Mittwochmorgen erschienen zwei Polizisten im Wohnheim und brachten Fatime ins Büro der Heimleiterin, um sie zu verhören.

  Fatime hatte dies erwartet, nachdem sie das Ticket gekauft hatte, und war beruhigt gewesen, als der Freitag ohne Zwischenfälle verstrich. Am Wochenende begann sie langsam, für ihre Reise zu packen. Sie vermutete, dass die Verzögerung darauf zurückzuführen war, dass die Polizei zunächst nicht verstanden hatte, dass ihr Ziel nicht nur Moskau, sondern auch Istanbul war.

  Die erste Frage der Polizisten lautete:

  „Wo ist Ihr Pass?“

  „Ich habe ihn verloren.“

  Trotz Drohungen, Druck und sogar einer Ohrfeige hielt sie an ihrer Aussage fest:

  „Ich habe ihn verloren.“

  Nach dem Verhör verließen die Polizisten das Wohnheim.

  Ihre Packliste war bereits weitgehend fertiggestellt. Sie legte den Pass, den sie tatsächlich in ihrer Handtasche versteckt hatte, an seinen Platz und nahm früh am nächsten Morgen ein Taxi zum Flughafen. Die Flughafenpolizei, die keine Auffälligkeiten in ihren Unterlagen sah und bemerkte, dass sie im Rahmen eines Studentenaustauschs nach Moskau reiste, stempelte ihren Pass ab.

  Doch gerade als sie dachte, sie hätte es geschafft, sah sie die Polizisten, von denen sie geglaubt hatte, sie hätten aufgegeben. Sie standen auf beiden Seiten von ihr.

 

Einer der Polizisten fragte die Flughafenpolizei in scharfem Ton:

  „Wohin fliegt diese Uigurin?“

  Die Flughafenpolizei, überrascht von der plötzlichen Frage, stammelte:

  „Moskau.“

  Der andere Polizist setzte nach:

  „Und wohin fliegt sie nach Moskau? Weißt du das?“

  Die Flughafenpolizei schaute erneut nervös auf ihren Computer und murmelte:

  „Istanbul.“

  Daraufhin packte einer der Polizisten Fatime am Arm und sagte:

  „Und von Istanbul geht es weiter nach Amerika, nicht wahr?“

  In diesem Moment wusste Fatime, dass es sinnlos wäre zu sagen: „Nein, ich hatte nicht vor, nach Amerika zu reisen.“ Also sagte sie nichts. Sie senkte den Kopf, blieb stumm und folgte den Polizisten.

  Sie begleiteten sie zu einem Polizeiwagen, wo sie sich auf den Rücksitz zwischen ihnen setzen musste.

  Als sie auf der Polizeistation ankamen, war es fast Mittag.

  Fatime wurde in einen Raum gebracht, wo sie gezwungen wurde, sich auszuziehen. Zwei männliche und eine weibliche Polizistin durchsuchten ihren Körper nach einem Sender oder einem versteckten Gerät. Dabei schlugen sie sie und verlangten, dass sie preisgab, wo sie ein solches Gerät versteckt hätte. Doch alles, was sie als Antwort erhielten, waren ihr Stöhnen und ihr Wimmern.

  Nachdem die Durchsuchung beendet war, brachte man sie zurück in ihre kalte Zelle.

  Am Abend übergaben die Polizisten Fatimes zuvor beschlagnahmtes Handy dem Kommissar. Sie hatten darauf nichts Verdächtiges gefunden. Fatime verbrachte die Nacht in Ungewissheit, hungrig, durstig und ohne ein Auge zuzutun in der eisigen Kälte der Zelle.

  Am nächsten Morgen, zu Beginn der Arbeitszeit, wurde sie zum Büro des Kommissars gebracht. Man legte ihr ein Dokument vor – ein Geständnis. Darin stand, dass sie, wie ihre Tante, als Spionin für Amerika tätig sei, dass sie enttarnt worden sei und versucht habe, über Moskau und Istanbul nach Washington zu fliehen. Außerdem enthielt das Dokument ein angebliches Schuldbekenntnis und eine Entschuldigung an den Staat.

  Fatime protestierte und weigerte sich zu unterschreiben, mit der Begründung, dass alles darin gelogen sei.

  Der Kommissar erhob sich von seinem Stuhl, packte sie am Kinn und sagte mit eisiger Stimme:

  „Was wahr oder falsch ist, bestimmen wir.“

  Dann schlug er ihr heftig ins Gesicht. Der Schlag ließ ihre Unterlippe aufplatzen und bluten. Als der Kommissar zu seinem Schreibtisch zurückkehrte, winkte er gereizt den Polizisten zu, sie wegzubringen.

  Zwei Polizisten hoben sie unter den Armen und brachten sie zu einer kleinen Krankenstation mit einem einfachen Bett. Eine Krankenschwester betrat den Raum und behandelte ihre Lippe, um die Blutung zu stoppen. Anschließend nahm sie ihr Blut- und Urinproben ab. In einem anderen Raum wurde Fatime aus drei verschiedenen Winkeln fotografiert, und ihre Fingerabdrücke wurden registriert.

 Danach wurde sie in eine kleine, überfüllte Zelle gebracht, in der bereits 39 Frauen saßen. In einer Ecke der Zelle befand sich eine einfache Toilette. Fatime wurde an Hals, Handgelenken und Fußgelenken angekettet. Sie konnte nur in einer gekrümmten Haltung sitzen, genauso wie die anderen Frauen, die in Reihen entlang der Wände der Zelle kauerten.

  Nach ein paar Stunden begann ihr Körper zu schmerzen und zu kribbeln, da sie sich kaum bewegen konnte. Schließlich begann sie vor Schmerzen zu weinen und zu schreien. Eine Frau mittleren Alters neben ihr zischte:

  „Wenn du weiter schreist, bringen sie dich in den dunklen Raum.“

  Fatime versuchte, ihr Weinen zu unterdrücken.

  Am nächsten Morgen schob jemand ein Stück Brot und eine Flasche Wasser unter der schweren Eisentür der Zelle durch. Die Frauen nahmen abwechselnd ihre Rationen. Erst jetzt bemerkte Fatime, dass die anderen Frauen alle Altersgruppen repräsentierten – von Teenagern bis zu alten Frauen. Alle aßen ihre Brotrationen geduckt und schweigend. Das Trinken von Wasser in dieser Position erwies sich allerdings als sehr schwierig.

  Nach dem Mittagessen am nächsten Tag kamen zwei Polizisten, um Fatime in einen Verhörraum zu bringen. Dort versuchten sie wieder, sie mit Drohungen und Belästigungen dazu zu zwingen, das Geständnis zu unterschreiben. Als sie sich weiterhin weigerte zu unterzeichnen, wurde sie mit brutaler Gewalt misshandelt. Trotz der Schmerzen und der schweren Folter blieb sie standhaft und weigerte sich weiter.

  Als es ihnen nicht gelang, sie zum Unterschreiben zu zwingen, brachten sie sie in einen anderen Raum und setzten sie auf einen „Tigerstuhl“ – einen Metallstuhl, in dem ihre Arme und Beine fixiert wurden, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Dort ließ man sie 24 Stunden lang sitzen.

  Am nächsten Morgen kamen die Polizisten zurück und forderten erneut, dass sie unterschreiben sollte. Fatime wusste jedoch, dass sie, wenn sie nachgab und unterschrieb, nie wieder Tageslicht sehen würde. Sie war entschlossen, nicht nachzugeben.

  Die Misshandlungen, Vergewaltigungen und Verhöre dauerten den ganzen Tag an. Sie stellten ihr immer wieder die gleichen Fragen:

  „Wann hast du deine Tante zuletzt getroffen? Was betet dein Vater? Bist du Muslimin oder Kommunistin? Wir haben deine Mutter erneut ins Verhör genommen. Wir werden sie deine Antworten bestätigen lassen.“

  Fatime erkannte, dass auch ihre Mutter wahrscheinlich bereits ähnliche Verhöre ertragen musste und nun erneut solchen ausgesetzt wurde. Aber trotz der brutalen Folter weigerte sie sich weiterhin, zu sprechen oder das Dokument zu unterschreiben.

  Am Abend wurde sie zurück in ihre Zelle gebracht und angekettet. Als sie langsam wieder zu sich kam, bemerkte sie, dass acht Frauen fehlten – allesamt junge Mädchen. Fatime wurde nie wieder zu einem Verhör gerufen, und die Mädchen kehrten nie zurück.

  Fatimes Schmerzen wurden mit der Zeit unerträglich. Ihr Stöhnen und ihre Schreie hallten durch die Zelle, ebenso wie die Schreie vieler anderer Frauen. Zwei Polizisten traten ein und lösten die Ketten von denjenigen, die am lautesten schrien, Fatime eingeschlossen. Sobald die Ketten entfernt waren, streckten sie instinktiv ihre Körper und brachen in hysterisches Lachen aus – möglicherweise vor Erleichterung, möglicherweise aus Schock. Doch anstatt ins Licht geführt zu werden, brachte man sie in einen dunklen, feuchten Raum.

  Der runde Raum hatte Wände, die mit kleinen Metallklappen bedeckt waren. Vier der Frauen, darunter Fatime, wurden hinter diesen Klappen eingeschlossen. Die Räume dahinter waren so eng, dass sie sich kaum bewegen, geschweige denn sitzen oder liegen konnten. Fatime erkannte, dass dies das „dunkle Zimmer“ sein musste, vor dem die ältere Frau in der Zelle sie gewarnt hatte.

  Eingesperrt in der klaustrophobischen Dunkelheit verlor Fatime schnell das Gefühl für die Zeit. Als sie schließlich herausgeholt wurde, merkte sie, dass sie trotz der weiterhin angelegten Ketten jeglichen menschlichen Kontakt vermisste. Zurück in ihrer Zelle stellte sie fest, dass neue Frauen da waren. Sie wandte sich an die Frau neben sich und fragte:

  „Ich kenne dich nicht, entschuldige, wie heißt du?“

  Die Frau erklärte, dass sie sich noch nicht begegnet seien und erzählte, dass die Gefangenen jede Woche verlegt würden, um zu verhindern, dass sie sich kennenlernen und miteinander sozial interagieren konnten.

 

Im Laufe des folgenden Jahres wurde Fatime zwischen verschiedenen Zellen und dunklen Räumen hin- und hergeschoben. Sie verlor nicht nur das Zeitgefühl, sondern begann auch, ihre Vergangenheit zu vergessen. Zuerst verblassten die Erinnerungen an ihre Freunde, dann verschwanden die Namen ihrer Verwandten und Eltern. Schließlich konnte sie sich nicht einmal mehr an ihre Gesichter erinnern.

  Während ihres letzten Aufenthalts im dunklen Raum versuchte sie verzweifelt, sich ein Bild ihrer Eltern ins Gedächtnis zu rufen. Doch an ihrer Stelle tauchten die Gesichter der Polizisten auf. In ihrer Vorstellung waren sie keine Menschen mehr – ihre Züge hatten sich in groteske, monströse Formen verwandelt.

  Schließlich erkannte Fatime, dass sie sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnern konnte. Die Worte in ihrem Gedächtnis verschwanden eines nach dem anderen, wie Schiffe, die in einem endlosen Meer versanken. Mit dem Verlust ihres Namens ging auch die Fähigkeit zu klaren Gedanken verloren. Sie legte ihre Hand an die feuchte Wand und versuchte zu begreifen: Was war dieses Kalte und Nasse? Wie nannte man dieses harte Material? Was war der Name des metallischen Gegenstands, der sie gefangen hielt? Die Begriffe verschwanden nach und nach, bis nur noch eines übrigblieb – das Geschlecht der Polizisten, die sie während der Verhöre vergewaltigt hatten.

  Das einzige, was in ihrem Bewusstsein blieb, war das Konzept der „Männlichkeit“. Und da dies alles war, was sie sich vorstellen konnte, schloss sie daraus, dass sie selbst ein Mann sein musste.

  Als sie schließlich aus der Zelle geholt wurde, lachte sie hysterisch und rief immer wieder:

  „ICH. BIN. EIN. MANN.“

  Ihr Gesicht war schmutzig von ihren eigenen Exkrementen, mit denen sie Bart und Schnurrbart gezeichnet hatte. Ihr Körper war übersät mit Wunden von den Bissen der Läuse. Auf Anweisung des Kommissars wurde sie ins Krankenhaus gebracht. Dort wurde sie eine Woche lang behandelt. Doch als zwei Polizisten kamen, um sie abzuholen, protestierte der Chefarzt und weigerte sich, sie herauszugeben.

  Bald darauf kam der Kommissar selbst ins Krankenhaus und forderte, die Gefangene sofort zurückzubringen. Der Chefarzt, der gerade ein Dokument auf seinem Schreibtisch beiseitegelegt hatte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und antwortete ruhig:

  „Lassen Sie sie hier, Herr Kommissar. Sie ist für Sie nutzlos.“

  Der Kommissar war irritiert:

  „Aber wir haben sie noch nicht zum Reden gebracht. Wir wissen, dass sie eine Spionin für die USA ist und Informationen an ihre Tante weitergibt. Sie muss gestehen und unterschreiben. Außerdem brauchen wir die Namen der amerikanischen Agenten hier und müssen wissen, welche Informationen sie über unser Land weitergegeben hat.“

  Während er sprach, gab er den beiden Polizisten ein Zeichen, Fatime von der Station zu holen. Kurz darauf brachten sie sie zurück. Ihr Gesicht trug noch immer das seltsame Lächeln.

  Der Kommissar setzte sich dem Chefarzt gegenüber und argumentierte weiter:

  „Ich verstehe Ihre Bedenken und Ihre Fürsorge, aber wir haben Methoden, um sie zum Reden zu bringen. Niemand bleibt in unseren Händen still.“

  Der Chefarzt lächelte ironisch, mit einem Hauch von Traurigkeit in den Augen:

  „Da bin ich mir sicher, Herr Kommissar. Niemand ist über Ihre Methoden im Unklaren. Aber warum glauben Sie, dass sie reden wird?“

  Der Kommissar schaute verwundert. Der Chefarzt stand auf, legte die Hände auf den Schreibtisch und lehnte sich vor. Mit dem Kinn wies er auf Fatime, die still zwischen den beiden Polizisten an der Wand stand:

  „Sehen Sie nicht, Herr Kommissar? Diese Frau glaubt, sie sei ein Mann. Sie hat mit ihren eigenen Exkrementen einen Bart und Schnurrbart in ihr Gesicht gezeichnet. Nicht einmal Sie können glauben, dass ihr Verstand noch intakt ist.“

  Der Kommissar starrte zunächst den Arzt, dann Fatime an, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Ohne ein Wort stand er auf und verließ den Raum.