Meine Tochter
Abdushukur Qumtur
Ich weiß noch, wie klein und zerbrechlich sie war, meine Tochter, und mir ist, als wäre es gestern gewesen. Nun ist sie davongeflogen, wie ein Schmetterling, der plötzlich seine Flügel entfaltet und sich auf den Weg ins Leben macht. Sie hat ihre eigenen Träume und diese Träume haben sie von uns fort in die Fremde gerufen.
Mit einem Mal ist sie herangereift und aufgeblüht wie eine schöne Blume. Doch was sie zu etwas ganz Besonderem gemacht hat, das waren die geheimen Schätze, die in ihr schlummerten. Viel gesprochen hat sie nicht darüber, aber ihre Augen haben es uns gesagt.
Schon als kleines Mädchen hatte sie angefangen, sich für all die vielen Dinge des Lebens zu interessieren. Wenn sie zu Hause war, vertiefte sie sich in ihre eigene Welt, um immer mehr Neues zu lernen, aber wenn sie draußen war, spielte und lachte sie genau wie alle anderen Kinder auch.
Wir waren so stolz auf sie, wie eine Familie nur stolz auf ihr Kind sein kann.
Sie hat es nicht leicht gehabt in ihrem jungen Leben. Sie wurde in ein Schulsystem hineingeworfen, in dem ein Kind nur lernen darf, was andere bestimmen. Die Wahrheit hinter den Dingen musste ihr verborgen bleiben. Sie tat ihr Bestes, um sich darein zu fügen und das vorgezeichnete Bild hinzunehmen.
Das Leben hat viele Höhen und Tiefen und meine Tochter ist der lebende Spiegel für all das, was wir durchgemacht haben. Wir mussten die Heimat verlassen und uns in eine neue Kultur hineinleben. Sie lernte nicht mehr aus Büchern, sondern aus den Erfahrungen des Lebens selbst. Sie sah uns in einen Abgrund stürzen und weinte mit uns; sie sah uns wieder aufstehen und lachte mit uns. Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, spüre ich, dass ich noch am Leben bin.
Jetzt vermissen wir ihr Lächeln. Wir vermissen das Gefühl, dass sie einfach nur da ist und zu uns hält. Wir vermissen sie jeden Morgen, wenn ihr Platz am Frühstückstisch leer bleibt. Früher, wenn wir zur Arbeit mussten, sagten wir ihr, sie solle die Sachen aufräumen; jetzt räumen wir alles genau so auf, wie sie es immer getan hat.
Meine Tochter ist zu einem lieben, verständnisvollen Menschen geworden, den jeder gern hat. Das Verhältnis zu ihrem jüngeren Bruder ist voll inniger Liebe. Wenn sie mit ihm spricht, ist es, als sei er der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der zählt. Es macht uns sehr glücklich, dass unsere beiden Kinder so fest zueinander halten.
Aber nun ist sie fort. Davongeflogen mit ihren Träumen. Sie wird Selbstständigkeit lernen und Erfahrung sammeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch denen, die ihr nahe sind, Glück und Freude bringen kann. Ich wünsche ihr all das Glück der Welt und bitte Gott um seinen Segen.
Ich bin stolz auf dich, mein Kind, dass du diesen großen Schritt in die Selbstständigkeit gewagt hast. Ich hoffe, dass dir immer die Kraft zu Freiheit und Unabhängigkeit gewährt sein möge, denn früher einmal lebten wir in einem Land, in dem es so etwas wie Freiheit und Unabhängigkeit nicht gab.
Ein Vater, der immer hinter dir stehen wird, der dich vermisst und für dich betet.
Stockholm, im April 2016
Übersetzt von Flora Qumtur und Ingrid Widiarto