Das Amulett
Abduweli Ayup
Wir waren beim Frühstück, als plötzlich die Zellentür aufgestoßen wurde. Erschrocken sprangen wir auf und stellten uns in Reih und Glied zu beiden Seiten der Tür auf, so wie es die Gefängnisregeln forderten. Ein Aufseher schob einen großgewachsenen Jungen in orangefarbenem Overall herein und ich dachte bei mir: ‚Schon wieder ein politischer Straftäter!‘ Ein erster Flaum zierte seine Oberlippe, so dass ich an meine Neffen denken musste, die etwa im gleichen Alter waren. Ich weiß daher sehr gut, wie es ist, heranwachsende Söhne zu haben. Ich weiß, wie viele Sorgen sie den Eltern bereiten können, wenn sie mit dem Feuer spielen, wenn sie die Schule schwänzen und hochfahrende Pläne schmieden. Ich dachte an seine Eltern, vor allem an seine arme Mutter, die nächtelang an seiner Wiege gesessen und ihn liebevoll umsorgt hatte.
Jetzt stand dieser flaumbärtige Junge inmitten von zwanzig misslaunigen Männern in grauen Gefängnisanzügen und wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. Und als ob all diese unrasierten, vollbärtigen Männer nur auf einen Befehl unseres Zellensprechers Abliz gewartet hätten, gab dieser ein Zeichen und ein kleiner, untersetzter Chinese machte sich daran, den Jungen nackt auszuziehen. Ich schaute weg. Ich wollte nicht mitansehen, wie dieser arme Bengel verhöhnt und gedemütigt wurde, doch als ich plötzlich ein krackendes Geräusch hörte, drehte ich mich um und sah, dass zwei Chinesen ihm die Handgelenke verrenkt hatten und zu Boden zwangen. Ich sprang dazwischen, zog den einen der Männer weg. Der andere lockerte seinen Griff und hielt triumphierend ein herzförmiges, besticktes Amulett in die Höhe. Ich half dem Jungen auf. „Halte durch!“, raunte ich ihn zu. „Das geht vorüber. Hier geht es nicht ums Prügeln, sondern ums Zähne-Zusammenbeißen.“ Er weinte an meiner Schulter und stammelte unter Schluchzen: „Mama, meine Mama.“ Er weinte um das Amulett, das seine Mutter für ihn gemacht hatte.
Als ich wieder zur Ruhe kam, stieg Panik in mir auf. Was hatte ich getan? Es war gefährlich, einem politischen Gefangenen zu helfen. Das war ein schweres Vergehen, das hart bestraft wurde. Mein Herz begann zu rasen. Wie sollte ich mich vor den Aufsehern rechtfertigen? Ich erinnerte mich mit Grauen an die langen Tage, als mir die Hände und Füße zusammengekettet waren, als ich vor Hunger fast umkam, weil ich ohne Hände nicht essen konnte. Nicht auf der Toilette sitzen konnte. Und in diesem Augenblick schrie mich Abliz auch schon an: „Wie denkst du, soll ich Kontrolle über die Zelle bewahren, wenn du mir in den Rücken fällst?“ Ilham, ein sehr gläubiger Moslem, der jeden Tag betete, pflichtete ihm bei: „Es war ein falsches Amulett, ein weltliches. Wir mussten es ihm wegnehmen. Das war Gotteslästerung und schon deshalb Grund genug für eine tüchtige Abreibung.“ „Egal, ob es ein falsches oder ein gutes Amulett war“, erwiderte ich. „ich wollte dem Jungen einfach nur helfen.“
Der dicke Chinese, der den Neuankömmling ausgezogen hatte, hielt das bestickte Amulett in die Höhe, lachte darüber, warf es dann einem anderen zu und alle amüsierten sich damit, bis es schließlich zu Füßen des Jungen auf dem Boden landete. Er bückte sich, streckte die Hand danach aus, doch in diesem Augenblick trat der Dicke zu: mit einem Fuß auf die Hand mit dem anderen in sein Genick. Andere kamen dazu und traten ihn überallhin, auf den ganzen Körper. Ohne nachzudenken warf ich mich über den Jungen, der schützend und blutüberströmt auf seinem Amulett lag.
Das ganze Chaos endete erst, als die Zellentür aufgerissen wurde und ein Aufseher mich im Genick packte. Er stieß mich aus der Zelle heraus, in den Gang. Ich konnte nichts sehen, denn meine Brille war kaputt, unter den vielen Tritten und Schlägen in tausend Stücke zersplittert und verbogen.
Im Deutschen bearbeitet von Ingrid Widiarto