„Beten ohne Waschung verboten!“
Abduweli Ayup
Zwei Nächte und einen Tag lang hatte sich die Langeweile wie ein Wurm in mein Herz gefressen. Es war kaum auszuhalten: von morgens bis mittags und von mittags bis abends gerade aufgerichtet und bewegungslos auf einem Hocker zu sitzen. Die Langeweile war unerträglich. Schlimmer noch als alle Schläge.
Zwei Nächte und einen Tag hatte ich hinter mich gebracht, da schob einer der Wärter frühmorgens ein Blatt Papier durch die Essklappe der Zellentür. Ich nahm es und las: Meine Haftstrafe war von sieben auf dreißig Tage verlängert worden.
„Unterschreib!“
Ich sollte meine eigene Haftverlängerung unterschreiben. Mir wurde schwarz vor Augen, alles verkrampfte sich in mir. Aber was blieb mir übrig? Ich stand auf, unterschrieb und kehrte zurück zu meinen Hocker. Alle Kraft hatte mich verlassen. Ich sank in mich zusammen und konnte nur noch eines denken: Keine zwei Tage sind vergangen und nun sollen nicht fünf, sondern achtundzwanzig weitere Tage der Langeweile folgen! Und danach? Würde dann vielleicht noch eine Verlängerung kommen? Und noch eine? Wie konnte ein Mensch diese Leere des Nichtstuns überleben? Da spürte ich plötzlich einen Tritt in den Rücken: Gerade sitzen!
Meine Zelle war eine Zelle für neu eingelieferte Häftlinge und diese bedurften einer besonderen Behandlung, eines Eingewöhnungstrainings sozusagen. Oder einer Zähmung, so wie man wilde Tiere zähmt, die in einem Zirkus auftreten sollen. Zum Beispiel:
Wenn sich Gefängnisdirektor Yangyung – ein Chinese – langweilte, rief er unseren Wärter Parhat – einen Uiguren – zu sich und sagte: „He, Pa-er-ha, es ist so langweilig. Gib doch mal wieder eine Vorstellung!“
Dann holte Parhat die neuen Häftlinge und ließ sie vor dem Gefängnisdirektor und seinen chinesischen Kumpanen Aufstellung nehmen. Er kommandierte auf Chinesisch: Links herum! Rechts herum! Setzen! In die Knie! Auf den Boden! usw. Wenn einer der Gefangenen nicht schnell genug gehorchte, weil er kein Chinesisch verstand, bekam er Prügel. Wer einen Fehler machte, bekam Prügel. Das war das Spiel, das Parhat mit seinen Sträflingen aufführte.
Eines Tages hatte Gefängnisdirektor Yangyung eine Idee:
„Pa-er-ha, du hast doch in der Schule etwas Englisch gelernt. Wie wär’s, wenn du dein Stück in drei Sprachen spielst. Das wäre noch interessanter.“
Parhat war mächtig stolz, hatte jedoch gewisse Zweifel an seinen Englischkenntnissen und deshalb kam er zu mir. Er wusste, dass ich in Amerika studiert hatte, und als wir feststellten, dass ich seinen Englischlehrer von früher her kannte, änderte sich seine Haltung mir gegenüber radikal. Von nun an sprach er nicht mehr Chinesisch mit mir, sondern Uigurisch und wir übten jeden Tag ein wenig Englisch. So kam es, dass ein bös gemeinter Scherz des Gefängnisdirektors mein Leben erträglicher machte: Neben Gerade-Sitzen, Essen und Geprügelt-Werden, gab es nun auch von Zeit zu Zeit ein nettes Gespräch.
Einmal erwähnte Parhat ein Lied von Michael Jackson, das ihm sehr gefiel. Er hatte einige Satzfetzen verstanden und die hatten ihn neugierig gemacht. Ob ich es ihm wohl ins Uigurische übersetzen könnte? Nichts lieber als das! Er brachte mir den Liedtext von They don’t care about us und ich übersetzte ihn.
„Sag mal, Bruder“, fragte Parhat mich erstaunt. „Hast du das wirklich aus dem Englischen übersetzt oder hast du es dir selbst ausgedacht? Hast du über das geschrieben, was uns Uiguren im Sommer 2009 in Urumchi passiert ist?“
„Nein, es ist die wortgetreue Übersetzung von Michael Jacksons Lied.“
„War er denn damals in Urumchi?“
Ich musste innerlich schmunzeln. Nein, Parhat, nicht nur die Uiguren haben unter Rassismus, Unterdrückung und Demütigung zu leiden. Aber er hatte ja Recht: They don’t care about us – Sie machen sich einen Dreck aus uns, das trifft genau die Situation der Uiguren in Xinjiang. Es ist, als hätte Michael Jackson über uns gesungen. Früher, als ich Englischlehrer war, hatten auch meine Schüler dieses Lied lernen wollen und ich war sehr froh darüber gewesen, denn schon damals hatte ich die Befürchtung, dass die uigurischen Schüler, die eine chinesische Schule besuchen, den ganzen Tag über Chinesisch sprechen und angehalten werden, im Sinne der Kommunistischen Partei zu denken, mit der Zeit ihre Herkunft, ihre Sprache und Kultur vergessen. Das darf nicht sein! Und als wir dieses Lied besprachen, da hatte ich ebenso wie meine Schüler das Gefühl, dass Michael Jackson auf seine eigene, mitreißende Art all das herausschrie, was wir fühlten, aber nicht laut sagen durften. Unzählige Male haben wir das Lied gemeinsam gesungen und ich bin mir sicher, dass keiner der Schüler es jemals vergessen wird.
Ich war Parhat dankbar, dass er durch den Unterricht mein Leben abwechslungsreicher machte, aber etwas an ihm mochte ich nicht: Er bettelte immerzu um Zigaretten. Wenn Polizei von außen kam, bettelte er sie an wie ein hungriger Hund, und da ich regelmäßig Besuch von meinem Anwalt hatte, drängte er mich jedes Mal, den Anwalt zu bitten, Zigaretten mitzubringen. Das war selbstverständlich verboten und es widerstrebte mir von ganzem Herzen, aber einmal tat ich es trotzdem. Der Anwalt brachte tatsächlich zum nächsten Termin Zigaretten mit und ich versteckte sie in meinem Brillenetui.
„Ich habe dich schon so oft gebeten, aber nie hast du es getan“, wunderte sich Parhat. „Wieso hast du es dieses Mal getan?“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, dass du alle Chinesen wie ein Hund anbettelst. Deshalb habe ich es getan. Obwohl es gegen meine Überzeugung ist, denn Zigaretten schaden der Gesundheit. Alles, was für den Menschen ungesund ist, hat Allah haram [1] gemacht.“
Parhat antwortete nicht. Schweigend saß er auf seinem Stuhl, in sich gekehrt. Einmal schaute er auf die Zigaretten in seiner Hand, dann durchs Fenster zum Himmel, dann wieder auf die Zigaretten. Lange saßen wir so einander gegenüber, bis er plötzlich aufstand, in einen anderen Raum ging und für sich allein eine seiner Kostbarkeiten rauchte.
In den folgenden Tagen war Parhat sehr still. Er mied mich, wollte keinen Unterricht, grübelte in sich hinein, dachte vielleicht über seine Nikotinsucht nach oder fühlte sich von mir gekränkt. Ich weiß es nicht. So blieb ich in meiner Zelle und kämpfte mit der Langeweile. Doch bald sollte ich eine erstaunliche Entdeckung machen:
Alle Neuankömmlinge mussten die Hausordnung auswendig lernen. Bisher hatte Parhat sie immer mit schneidender Stimme auf Chinesisch vorgelesen und die Häftlinge mussten sie nachsprechen, so gut sie es konnten. An diesem Morgen hatten sich wieder alle aufgestellt und Parhat las die Hausordnung vor – aber er tat es auf Uigurisch und in ruhigem, sachlichem Ton. Keine Spur mehr von diktatorischem Befehlsgehabe. Als ich ihn überrascht ansah, wich er meinem Blick aus.
Die elfte Regel der Hausordnung lautete „Beten verboten“. Auch ich hatte es so gelernt, auf Chinesisch natürlich. Doch heute las Parhat nicht „Beten verboten“ auf Uigurisch, sondern „Beten ohne Waschung verboten“. So lehrte er es die neuen Häftlinge und so mussten sie es nachsprechen.
Einige Tage danach fand ich zufällig eine Kopie der Hausordnung auf einem Tisch liegen. In Absatz 11 waren von Hand in einer kaum leserlichen Schrift die beiden Wörter „ohne Waschung“ hineingekritzelt worden. Parhat bemerkte mich, ich lächelte ihm anerkennend und dankbar zu und ich bin mir ganz sicher, dass für einen winzigen Augenblick ein kleines Zwinkern in seinen Augen aufblitzte.
Aus dem Uigurischen von Nijat Hushur und Ingrid Widiarto
[1] alles, was nach islamischem Recht verboten ist