Ilham Tohti

Staatsfeind oder Friedensstifter?

 

Es gibt in der chinesischen Verfassung einen Artikel, der lautet: „Alle Nationalitäten in der Volksrepublik China sind gleichberechtigt. Der Staat schützt die legitimen Rechte und Interessen der nationalen Minderheiten.“[1]

Es gibt in einem chinesischen Gefängnis einen Mann, der die Einhaltung eben dieses Artikels öffentlich angemahnt hat und deswegen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde: Ilham Tohti.

Wie kann das sein? Eine gute Frage. Denn nach unserem demokratischen Verständnis sollte die Verfassung eines Staates allgemeingültig und verbindlich sein und nicht ein Geheimnis, das niemand ausplaudern darf. Der chinesischen Regierung scheint es allerdings nicht recht zu sein, wenn öffentlich bekannt wird, wie wenig sie sich an die Grundsätze der Verfassung hält. Denn sie schützt nicht  die legitimen Rechte und Interessen der Uiguren in Xinjiang, sondern torpediert sie von Jahr zu Jahr mehr.

Die Situation ist folgende:
Seit Gründung der Volksrepublik wurden Han-Chinesen aus dem Osten nach Xinjiang umgesiedelt, um die Wirtschaft voranzutreiben und das Land zu „sinisieren“. So machen heute die Uiguren in ihrer Heimat nicht einmal mehr die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus, und da die zugezogenen Han-Chinesen in vieler Hinsicht bevorzugt werden, fühlen sich die Uiguren mehr und mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sie haben keinen Anteil am wirtschaftlichen Fortschritt, sie bekommen keinen Arbeitsplatz in den großen Industrieanlagen und Landwirtschaftsbetrieben. Die reichen Bodenschätze werden abgebaut, ohne dass sie darauf Einfluss nehmen können; das Land wird zerstört, verseucht zurückgelassen. Das kostbare Grundwasser der Wüstenregion wird für staatliche Großplantagen und Industrie verprasst, während ihre kleinen Höfe verdorren. In den Schulen dürfen sie ihre Sprache nicht sprechen. In der Ausübung ihrer Religion werden sie eingeschränkt. Sie haben kaum eine Chance, sich vor Gericht zu rechtfertigen, wenn es zu Streitigkeiten mit Han-Chinesen kommt. Diese Aufzählung braucht nicht fortgesetzt werden, um deutlich zu machen, warum ein friedliches Zusammenleben der beiden Volksgruppen immer schwieriger wird.

Ilham Tohti war Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Zentralen Nationalitäten-Universität in Peking. 2006 hatte er die Webseite „Uyghur Online“ gegründet, mit der er auch in Zentralchina auf die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage der Uiguren aufmerksam machen wollte, um so einen Dialog anzustoßen und für ein besseres Verständnis zwischen Han-Chinesen und Uiguren zu werben. 2008 wurde er verhaftet und seine Webseite geschlossen. Auf internationale Petitionen hin kam er wieder frei, doch am 23. September 2014 verurteilte ihn das Mittlere Volksgericht von Urumchi zu lebenslanger Freiheitsstrafe und beschlagnahmte sein Vermögen.

Ilham Tohti wurde Separatismus vorgeworfen. Er ist jedoch alles andere als ein Separatist. Er hat auf die Missstände in Xinjiang hingewiesen und öffentlich zum Umdenken in der Politik aufgerufen. Er wollte Verständnis für die Probleme der Uiguren wecken und dadurch die Basis für ein friedliches Zusammenleben von Uiguren und Han-Chinesen schaffen. Er forderte die Autonomie, die Xinjiang und den Uiguren 1955 offiziell zugesichert wurde, denn nur in einem Klima von Gleichberechtigung kann man erreichen, dass die Kluft zwischen den Volksgruppen nicht immer tiefer, sondern überwunden wird.

Aber genau das scheint nicht im Interesse der Regierung zu sein. Sie verbreitet eher ein negatives Bild der Uiguren, stellt sie als Terroristen oder staatsgefährdende Separatisten hin, um ihr hartes Vorgehen zu rechtfertigen. Und da passt ein zu Verständigung aufrufender Intellektueller nicht recht ins Bild. Es ist wohl wahr, dass es gelegentlich Unruhen gibt, weil Druck und Ungerechtigkeit Überhand nehmen, und es gibt auch Uiguren, die glauben, ein unabhängiges Ost-Turkestan sei eine gute Lösung, aber dass Ilham Tohti ein ganz anderes Ziel verfolgte, haben die Richter offenbar nicht verstanden. Vielleicht wollten oder sollten sie es nicht verstehen. Vielleicht weil es gut ist, ein Feindbild zu haben, das von anderen Problemen ablenkt. Vielleicht weil Kritik an der Regierung grundsätzlich tabu ist. Weil eine offene Diskussion aufdecken würde, wie sehr die Bestimmungen der Verfassung verletzt werden – zu denen im Übrigen auch Redefreiheit gehört.[2]

Und deshalb, weil Ilham Tohti von seiner Redefreiheit Gebrauch gemacht und zu einem Miteinander statt Gegeneinander aufgerufen hat, gilt er in China als Staatsfeind und genießt im Ausland hohes Ansehen. Er erhielt 2014 den PEN/Barbara Goldsmith Freedom to Write Award und 2016 den Martin Ennals Award für Verteidiger der Menschenrechte, der von zehn führenden Menschenrechtsorganisationen der Welt verliehen wird. Außerdem war er für den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments nominiert. 2017 ehrt ihn die Stadt Weimar mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Weimar, die Liberale Internationale (Liberal International) mit dem Prize for Freedom und die Initiatives for China, eine Organisation, die sich für einen friedlichen Übergang Chinas zu Demokratie einsetzt, mit dem  Citizen Power Award. 2019 erhielt er den zlav-Havel-Menschenrechtspreis des Europarats und auch

den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments.


[1] Kapitel I, Art. 4

[2] Kapitel II, Artikel 35: „Die Bürger der Volksrepublik China genießen die Freiheit der Rede, der Publikation, der Versammlung, der Vereinigung, der Durchführung von Straßenumzügen und Demonstrationen.“

 

Siehe auch:  Ursachen der ethnischen Spannungen

https://www.dw.com/de/sacharow-preis-f%C3%BCr-ilham-tohti/a-50963815