Die Herkunft der Uiguren

 

Über die Herkunft der Uiguren gibt es viele Forschungen und viele Meinungen, so dass es nicht leicht ist, sich einen klaren Durchblick zu verschaffen. Sicher ist, dass die Bezeichnung „Uiguren“ als Oberbegriff für das ganze Uigurisch sprechende Volk offiziell erst 1921 auf einer Konferenz in Taschkent festgelegt wurde. Sicher ist aber auch, dass diese Bezeichnung sehr viel älter ist. Sie findet sich bereits in chinesischen Dokumenten aus dem 5. Jahrhundert. Im Jahre 744 schlossen sich neun Turkstämme (Toquz Oghuz) zusammen, um gemeinsam das Uigurische Khaganat zu gründen, das sich bis in die heutige Mongolei erstreckte. Als es etwa hundert Jahre später zerfiel, zogen sich die Uiguren wieder weiter nach Westen zurück und sind seit dem 9. Jahrhundert im Tarimbecken und den umliegenden Gebieten zu Hause. Exakte historische Details können in diesem Kapitel nur wenige angeführt werden, aber doch einige Theorien und Legenden:

 

Oghuz Khan

Oghuz Khan gilt vielen als Stammvater der Uiguren. Wann genau er lebte, weiß niemand zu sagen, und ob er überhaupt gelebt hat, auch nicht, denn er ist eine halb-mythische Gestalt. Doch dass es im Großreich der Göktürken eine Stammeskonföderation der Oghusen gab, ist historisch belegt und viele Turkvölker Zentralasiens leiten ihre Herkunft von Oghuz Khan ab. Da Geschichte früher nur mündlich überliefert wurde, gibt es unterschiedliche Versionen über sein Leben und Wirken. Ein erstes schriftliches Dokument stammt aus dem 13. Jahrhundert.

Oghuz Khan wurde als Sohn des Qara Khan geboren und kurz nach seiner Geburt begann er zu sprechen. Sein Mund war rot wie Feuersglut, seine Augen wie Honig und sein Haar schwarz wie die Nacht. Er hatte die Füße eines Ochsen und am Bauch das Fell eines Bären: Er war schöner als eine Fee. Er nährte sich nicht von der Milch seinerMutter, sondern von Kumis und Fleisch, so dass er bereits nach vierzig Tagen zu einem tapferen jungen Mann herangewachsen war.

Da das Land zu jener Zeit von einem bösen Drachen heimgesucht wurde, machte Oghuz sich auf, ihn zu töten. Er stellte ihm eine Falle, indem er einen frischerlegten Hirsch an einen Baum band, und als der Drache kam und ihn fressen wollte, durchbohrte er ihn mit seiner bronzenen Lanze und schlug den Kopf mit seinem stählernen Schwert ab. Fortan wurde er als großer Held verehrt. Er versammelte die vierzig Häuptlingssöhne der vierzig Turkstämme um sich, um ein mächtiges Heer zu bilden. Dann begab er sich hinaus in die Steppe, um Tengri, dem Himmelsgott, zu danken. Da erschien ihm ein Lichtkreis mit einem wunderschönen Mädchen am Himmel, er verliebte sich und heiratete das Mädchen. Sie gebar ihm drei Söhne. Später, bei einer Jagd, sah Oghuz Khan wieder ein wunderschönes Mädchen, dieses Mal in einem Baum. Er heiratete auch sie und bekam wiederum drei Söhne.

Danach rief er alle Häuptlinge auf, mit ihm in den Krieg zu ziehen: „Ich bin der Khan aller Turkstämme“, sagte er. „Nun will ich auch alle vier Enden der Welt beherrschen!“ Der Khan im Osten unterwarf sich, doch nicht Urum Khan im Westen (Rom). Da machte sich Oghuz mit seinem Heer auf gen Westen, um ihn im Kampf zu überwältigen. Eines Nachts kam ein großer grauer Wolf in sein Zelt und sagte: „Oghuz, da du nun gegen Rom kämpfen willst, werde ich deiner Armee vorangehen und den Weg weisen.“ Oghuz besiegte Rom und ebenso siegte er in Turkestan, Indien, Persien, Ägypten und Syrien. Oghuz Khan wurde zum Herrscher über alle vier Enden der Welt.

Als er alt geworden war, hatte er einen Traum. Er sandte seine sechs Söhne nach Osten und nach Westen. Die drei älteren Söhne fanden im Osten einen goldenen Bogen, die drei jüngeren Söhne fanden im Westen drei silberne Pfeile. Oghuz Khan brach den Bogen in drei Teile und gab jedem der älteren Söhne ein Stück davon. Dann gab er jedem der drei jüngeren Söhne einen silbernen Pfeil. Dies sollte dafür stehen, dass er nun sein Reich aufteilte und jedes dieser Teile an einem seiner sechs Söhne überließ.[1]

Deshalb sehen die Turkvölker Zentralasiens – so auch die Uiguren – Oghuz Khan als ihren Ahnherrn an.

 

Türk

Der große Gelehrte Mahmud al-Kashgari (1005-1102), der in seinem berühmten Werk „Sammlung der Dialekte der Türken“ (dīwān lughāt at-turk) nicht nur die unterschiedlichen Dialekte der Turksprachen behandelt, sondern auch die Kultur und Geschichte des Mittelalters, geht in seiner Suche nach dem Ursprung der Turkvölker noch weiter zurück in die Vergangenheit: Seiner Ansicht nach lässt sich ihre Herkunft auf einen Stammvater namens Türk zurückführen, der der Sohn Japhets und damit ein Enkel Noahs war. Die Völker des Vorderen Orients galten dagegen als Nachkommen Sems, des ältesten von Noahs Söhnen.[2]

 

Der Kontinent Mu

Der sagenhafte Kontinent Mu soll einst ein großes Reich im Pazifischen Ozean gewesen sein und vor 12 000 bis 14 000 Jahren durch Erdkrustenverschiebungen und tektonische Veränderungen im pazifischen Becken in die Tiefen des Ozeans gestürzt sein. [...] Nach wissenschaftlichen Analysen soll auf diesem Kontinent vor 70 000 bis 150 000 Jahren eine hochentwickelte Zivilisation gelebt haben.[3]

Durch die Forschungen des britischen Professors James Churchward (1851-1936) wurde aus einem Mythos eine teilweise historisch belegbare Geschichte, mit der sich seitdem viele Forscher beschäftigt haben und immer noch beschäftigen. Mustafa Kemal Atatürk ließ das 1930 erschienene Buch Churchwards ins Türkische übersetzen und daraufhin weitere, tiefergehende Nachforschungen anstellen. Dabei stieß man auf erstaunliche Ähnlichkeiten in der Sprache und der Form des Schamanismus zwischen den Maya in Mittelamerika und den Türken, was u.a. zu folgender These führte:

„... Vor ca. 70 000 Jahren erfolgten Auswanderungen in die weiten Länder, wie nach Asien, Europa und Afrika. Die Auswanderer brachten dabei auch ihre eigene Kultur und eigene Fähigkeiten mit sich, so dass sie diese an den Niederlassungsorten weiter auslebten. Die erste Welle aus dem Kontinent Mu, kam in Asien als „Mayya-Gruppe“
an und gründete die alte Kultur der Uiguren, die heute fast verschwunden ist.“

Nun, warum auch nicht?

 

Die Vorfahren der Uiguren

Weit weniger abenteuerlich ist die Theorie, dass die Uiguren von den Tiele abstammen, wie es die offizielle chinesische Seite unterstützt. Die Tiele waren turkstämmige Volksgruppen, die in Nordchina und Zentralasien lebten. Sie sollen schon zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. in der Nähe des Baikalsees einen mächtigen Stammesbund gegründet haben.[4] Als Stammvater der späteren Uiguren wird in manchen Quellen der Nomadenherrscher Ay Uzhru (reg. 487–508) erwähnt.[5] Im 7. Jahrhundert gründeten die Uiguren ein erstes eigenes Reich und im Jahre 744 das große Uigurische Khaganat, das stets in gutem Einvernehmen mit der chinesischen Tang-Dynastie stand und sie mehrmals im Kampf unterstützte. Ein Vertreter des Kaisers soll einmal gesagt haben: „Es ist den Uiguren gelungen, unser Land vor einem Unheil zu bewahren, und dennoch haben sie nie auch nur einen Fuß- oder Zollbreit unseres Landes besetzt.“[6]

Nachdem im 9. Jahrhundert das Uigurische Khaganat zerfallen war, wanderten die Uiguren aus der Mongolei nach Westen: Eine kleinere Gruppe blieb in Gansu, eine zweite in der Turpan-Oase und eine dritte zog weiter bis in die Region Kashgar, wo sie jeweils ein neues Königreich gründeten.

An anderer Stelle liest man, dass die Uiguren, als die von der Mongolei nach Westen zogen, auf die Tocharer (ein skythisches Volk, möglicherweise identisch mit der von den Chinesen Yuezhi genannten indoeuropäischen Stammesgruppe) stießen und sich mit ihnen vermischten. Oder aber sie stammen von den Xiongnu, einem Reiternomadenvolk (möglicherweise identisch mit den Hunnen) ab, das um die Zeitenwende viele Jahrhunderte lang weite Teile Zentralasiens beherrscht hatte. Der uigurische Historiker Muhemmed Imin Bughra glaubte hingegen, dass auch schon die ursprünglichen Bewohner des heutigen Xinjiangs Turkstämme gewesen waren und bereits vor 9000 Jahren hier lebten.[7]

Oder waren es vielleicht doch die Tocharer gewesen, die zuerst in diesem Land heimisch waren? Zumindest sollen sie vor 4000 hier gelebt haben und erst, nachdem sie 176 v. Chr. von den Xiongnu besiegt worden waren, nach Baktrien ausgewandert sein. Die Tocharer waren ein Volk von großgewachsenen, blonden und blauäugigen Menschen mit Barthaar und heller Haut, ein friedliches Volk von Bürgern, Bauern und Handelsleuten, von waffenlosen Pferdezüchtern.[8]

Funde von Mumien im Tarimbecken ermöglichen heute exakte wissenschaftliche Untersuchungen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat man mittlerweile Hunderte von Mumien gefunden. Sie wurden nicht künstlich mumifiziert, sondern trockneten in dem extrem trockenen Wüstenklima auf natürliche Weise aus. Genetische und anthropologische Untersuchungen lassen auf eine Zuwanderung aus dem Westen oder dem indoeuropäischen Raum schließen, denn die Menschen, die hier vor 3000 oder 4000 Jahren gestorben waren, zeigen deutlich westliche Züge und sehen Europäern ähnlicher als Chinesen. Durch DNA-Untersuchungen ließ sich jedoch nachweisen, dass sie einem Mischvolk angehörten, das sowohl ostasiatische als auch europäische Merkmale aufweist, wobei die einen Forscher sagen, dass die Verwandtschaft zur europäischen Rasse enger war[9] und andere umgekehrt.[10]

Der amerikanische Archäologe Victor Mair ist von der europäischen Herkunft der Mumien überzeugt, weil ihre Textilien frühen Funden in Österreich, Skandinavien, Deutschland[11] und Schottland entsprechen, doch das beweist im Grunde ja nur, dass es schon lange vor der Geschichte der Seidenstraße einen Austausch zwischen Europa und Asien gegeben hat. Wer also diese Menschen wirklich waren und woher sie kamen, wird niemand mit Gewissheit sagen können, denn „Es waren damals so viele Völker unterwegs, dass die Trennung in Ethnien für die Kulturgeschichte dieses Raumes völlig belanglos ist.“[12]

Nicht völlig belanglos ist jedoch, dass die Uiguren im Laufe der Jahrhunderte aus verschiedenen Volksgruppen zu einem Volk zusammengewachsen sind, das eine Sprache spricht und eine Kultur hervorgebracht hat. Und diese Kultur sollte unbedingt erhalten bleiben, denn: „Das kulturelle Erbe der Uiguren zu zerstören bedeutet einen wichtigen Teil der Weltkultur zu zerstören. Die uigurische Kultur zu erhalten heißt die Kultur Zentralasiens, Asiens und der ganzen Welt zu erhalten.“[13]

 

 

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Oghuz_Khagan

[2] Claus Schönig: Fiktive Völkergenealogien im Dīwān Lugāt at-Turk des Mahmūd al-Kašgarī, S. 197

[3] http://www.panturan.com/kontinent-mu-mythos-oder-wahrheit-teil-1/

[4] Nazarova & Niyaz: Uyghur – An Elementary Textbook

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Uiguren#Das_Gro.C3.9Freich_der_Uiguren

[6] Dolkun Kamberi: Uyghurs and Uyghur Identity (Radio Free Asia 2015)

[7] A History of East Turkestan. (https://en.wikipedia.org/wiki/History_of_the_Uyghur_people)

[8] http://www.zeit.de/2010/43/Mumienforschung-China/seite-2

[9] http://www.nature.com/articles/srep19998?from=groupmessage&isappinstalled=0#conclusions

[10] https://www.google.de/?gws_rd=ssl#q=In+conclusion%2C+we+argue+that+the+Uyghurs%27+genetic+structure+is+more+similar+to+East+Asians+than+to+Europeans%2C+in+contrast+to+the+reports+by+Xu+and+Jin

[11] http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/gesundheit/4000-jahre-alte-funde-westlicher-staemme-werfen-ein-neues-licht-auf-die-anfaenge-der-chinesischen-kultur/110292.html

[12] Mayke Wagner: http://www.zeit.de/2010/43/Mumienforschung-China/seite-2

[13] Dolkun Kamberi: Uyghurs and Uyghur Identity (Radio Free Asia 2015)