Alte Wandmalereien und
neue Kreativität
Ein kunstpädagogisches Projekt
Da die Kultur der Uiguren im heutigen Xinjiang durch den Han-chinesischen Einfluss immer stärker zurückgedrängt wird, startete ein uigurischer Kunstpädagoge im Rahmen seines Studiums an der Universität der Künste Berlin ein Projekt, mit dem untersucht werden sollte, ob es möglich ist, durch Rückbesinnung auf die eigene alte Geschichte, insbesondere auf die Wandmalereien buddhistischer und manichäischer Künstler zur Zeit der alten Seidenstraße, uigurische Maler zu einem neuen künstlerischen Bewusstsein und damit zu neuer Kreativität zu führen.
In einem ersten Schritt wurde mit einer Gruppe uigurischer Schüler und Schülerinnen im Alter von etwa zwölf Jahren in dem Bergdorf Tuyuk in der Turpan-Oase ein „Höhlenprojekt“ durchgeführt, bei dem den teilnehmenden Kindern einerseits die Geschichte der Höhlen und Wandmalereien und andererseits alte und neue maltechnische Grundlagen erklärt wurden. Wie sich herausstellte, hatten weder die Kinder noch ihre Eltern und nicht einmal die Großeltern irgendwelche Kenntnisse über die alte Kultur, die über viele Jahrhunderte hinweg in ihrer unmittelbaren Umgebung weltbekannte Kunstwerke hatte entstehen lassen. Auch über die westlichen Forscher, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Land kamen, um diese Kunstschätze freizulegen und viele der Wandmalereien und Schriftdokumente für die Museen ihrer Heimatländer mitnahmen, wussten sie nichts.
Nachdem die Schüler unter Anleitung des Lehrers in der Nähe ihres Dorfes Pigmente gesammelt, sie selbst zu Farben angesetzt und auch einige wesentliche maltechnische Grundlagen kennengelernt hatten, sollten sie die Ausmalung einer eigenen „Höhle“ planen. Als Höhle diente ein altes leerstehendes Lehmhaus. Den Kindern waren zuvor Fotografien der meist mehr als tausend Jahre alten Wandmalereien gezeigt worden, die das Leben der damaligen Zeit darstellten, vor allem aber Buddha, Bodhisattvas, Könige, Prinzessinnen und Stifterfiguren, doch die sollten nicht als Vorlage dienen, sondern die Schüler sollten sich Motive aus ihrem jetzigen Leben ausdenken.
Im chinesischen Erziehungssystem ist es nicht üblich, sich selbst Aufgaben zu stellen. Die Kinder sind gewöhnt, Bilder abzumalen, Antworten auswendig zu lernen, Dinge nachzuahmen, aber nicht selbst kreativ zu werden, und so dauerte es eine Weile, ehe sie den Mut fanden, ein eigenes Bild zu malen. Ganz frei waren sie allerdings nicht in ihrer Vorstellungskraft. Die meisten Bilder ähnelten jenen, die man auf chinesischen Propagandaplakaten sieht: blühende Landschaften und reiche Obsternte, saubere, moderne Häuser und geordneter Straßenverkehr, adrette Tänzerinnen und jubelnde Kinder mit einer großen roten Fahne in der Hand.
Nun, man kann in drei Wochen nicht die Welt verändern.
Und doch konnte man mit diesem kleinen Projekt jungen Uiguren zeigen, dass sie eine große kulturelle Vergangenheit haben, auf die sie stolz sein können, dass ihr Land Kunstschätze hervorgebracht hat, die in der ganzen Welt berühmt sind, dass die Menschen, die damals in ihrem Dorf lebten, etwas schaffen konnten, was heute in den Museen ferner Länder bewundert wird, und dass auch sie selbst etwas Neues geschaffen haben, nämlich eine neue Höhle, wie es sie niemals zuvor gegeben hat. Die Arbeit hat ihnen Freude gemacht und bewiesen, dass sie mehr können als nur Dinge nachzuahmen.
In einem zweiten Schritt wurde das Projekt über den chinesischen Chat-Dienst WeChat anderen uigurischen Kunstlehrern und Künstlern vorgestellt. Einige von ihnen zeigten großes Interesse, griffen die Idee auf und starteten mit ihren eigenen Schülern ähnliche Projekte. So könnte es vielleicht in vielen kleinen Schritten möglich sein, durch eine Rückbesinnung auf die alte Kultur den Uiguren Stolz und Selbstvertrauen zu geben. Es könnte ein winziger Anfang sein, nicht nur den Schülern der Höhlenprojekt-Gruppe, sondern auch uigurischen Künstlern mehr Mut zu eigener, neuer Kreativität zu geben.
Siehe hierzu:
Nijat Hushur: Wandmalereien als Ausgangspunkt für neues künstlerisches Bewusstsein,
Akademiker Verlag, 2015