Wilde Taube
Nurmemet Yasim
Es gibt eine uigurische Kurzgeschichte, die es weltweit zu trauriger Berühmtheit gebracht hat, und das nicht wegen ihrer literarischen Qualität, sondern wegen einer Ungeheuerlichkeit.
„Wilde Taube“ ist eine bewegende, kleine Geschichte, die sofort nach Erscheinen in der Literaturzeitschrift von Kashgar überall in Xinjiang begeisterte Leser gefunden hatte und für einen Literaturpreis nominiert war – bis alle Ausgaben konfisziert, Verleger und Autor verhaftet wurden. Die Geschichte sei eine politische Anklageschrift, hieß es, ein Aufruf zu Separatismus.
Der Verleger wurde zu drei, der Autor zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Geschichte erzählt von einer jungen Taube, Sohn eines Taubenkönigs, der in Gefangenschaft gerät und sich lieber umbringt als die Freiheit zu verlieren.
„Ich fliege in den tiefblauen Himmel hinein. Ich weiß nicht, ob ich träume oder wach bin, aber ich fühle, wie ein kräftiger Wind über meine Flügel streicht, wie mein Geist emporfliegt und mein Körper stark und mächtig wird. In der Ferne rötet sich der Morgenhimmel, die Sonne bringt die Welt zum Strahlen. Wie wunderschön ist das Land unter mir! Ich steige immer höher in die Lüfte und meine Kraft wächst ins schier Unermessliche.“ So beginnt die Geschichte und man könnte wohl eher eine poetische Liebeserklärung an das Land der Uiguren erwarten als ein politisches Gewitter, doch sie ist beides in einem:
Da in letzter Zeit immer häufiger Menschen in das Land der Wildtauben kommen, schickt die Witwe des früheren Taubenkönigs ihren Sohn aus, um eine neue Heimat zu suchen, in der die Wildtauben in Frieden leben können. Sie traut den Menschen nicht, denn ihr Mann war einst in ihrer Gefangenschaft ums Leben gekommen. „Man kann es nicht sehen“, warnt sie ihren Sohn, „aber die Menschen sind gefährlich. Sie verbergen ihre Bosheit im Bauch.“ Die junge Taube fliegt und fliegt, den ganzen Tag lang, ohne einen geeigneten Ort zu finden, und übernachtet schließlich erschöpft und hungrig in einem Baum. Am nächsten Morgen triff sie auf eine Gruppe anderer Tauben und erkundigt sich, wo man etwas zu fressen finden könne. „Komm mit uns“, sagen sie, „wir kennen eine Scheune voller Weizenkörner. Da kannst du dich satt essen.“ Die Tauben sehen ähnlich aus wie sie selbst, und da ja auch sie Tauben sind, hegt die junge Wildtaube kein Misstrauen und folgt ihnen. Beim Fressen wird sie von zwei Menschenhänden gepackt, gefesselt und in einen Käfig gesteckt. Ein älterer Mann rät, die Taube freizulassen, weil wilde Tauben störrisch und nutzlos sind, aber der jüngere will sie behalten und zähmen.
Was ist ein Leben ohne Freiheit? Was ist eine Taube ohne Seele? Die Haustauben wissen nicht, was eine Seele ist und sie wollen keine Freiheit, weil der Käfig ihnen Sicherheit bietet und sie jeden Tag Nahrung bekommen. Ja, und wenn die Menschen ab und zu eine Taube aufessen wollen, nun, dann muss man das hinnehmen und trotzdem dankbar sein. So ist nun einmal das Leben und weiter wird nicht darüber diskutiert.
Die junge Wildtaube kann dies jedoch nicht akzeptieren. Sie versucht sich zu befreien, bricht Füße und Schnabel an den Eisenstäben ihres Käfigs, verweigert Essen und Trinken, verliert ihre Federn und ist nach einigen Tagen nur noch ein schwaches, verzweifelt Etwas. „Ich bin nichts wert“, sagt sie sich. „Ich habe keine neue Heimat für mein Volk gefunden, ich kann mich nicht befreien und mich nicht einmal selbst töten, weil ich zu schwach geworden bin.“
Die Mutter, die sich Sorgen über das lange Ausbleiben gemacht hat, findet schließlich ihren Sohn. Sie hat eine giftige Beere mitgebracht. „Ich bin stolz auf dich, mein Sohn“, sagt sie. „Du hast getan, was du konntest, aber nun gibt es keinen Ausweg mehr. Iss diese Beere, dann wirst du nicht als Sklave sterben, sondern frei sein. Wirklich frei.“
Nurmemet Yasim wurde 1974 als Sohn einer Bauernfamilie geboren und begann schon als Jugendlicher mit dem Schreiben. Er schrieb Essays, Kurzgeschichten und Gedichte, veröffentlichte drei Gedichtbände und wurde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Einige seiner Werke wurden im uigurischen Literaturunterricht an Xinjiangs Schulen gelesen.
Am 29. November 2004 wurde er verhaftet und kurz darauf in einem nicht-öffentlichen Gerichtsverfahren und ohne Rechtsbeistand zu zehn Jahren Haft verurteilt. Begründung: Die Geschichte sei eine
getarnte Anklage gegen die chinesische Regierung Xinjiangs, Yasim habe mit ihr zum Separatismus aufgerufen.
Und das ist in China ein schweres Verbrechen.
2005 durfte ihn der UN-Sonderberichterstatter über Folter im Gefängnis besuchen. Yasim sei geschlagen worden, schrieb er und forderte eine unverzügliche Freilassung, doch nichts geschah. 2013 berichtet Amnesty International, dass Yasim vermutlich bereits zwei Jahre zuvor verstorben sei. „Nurmemet Yasin hätte gar nicht erst inhaftiert werden dürfen. Sollten sich die Berichte bestätigen, ist der Tod dieses jungen Schriftstellers eine beschämende Anklage gegen die chinesische Regierung und deren Vorstellung von Gerechtigkeit.“[1]
Denn: Nurmemet Yasim wurde verurteilt, weil er Gebrauch von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung gemacht hatte, das laut Verfassung allen Bürgern der Volksrepublik China, ausdrücklich auch den ethnischen Minderheiten, zusteht.
Siehe auch: http://www.uyghurpen.org/read-the-wild-pigeon.html