Freiheit
In meinen Gesprächen mit Uiguren stand schon oft das Thema „Freiheit“ im Mittelpunkt. Viele haben ihre Heimat verlassen, weil es in China keine Freiheit gibt. Aber was ist eigentlich Freiheit? Verstehen wir alle das Gleiche darunter?
Der Satz „Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt“ ist sehr alt und mit Sicherheit die einfachste Antwort auf die Frage, was Freiheit für den Einzelnen bedeutet. Seit der Zeit der Aufklärung haben sich viele Philosophen und Dichter mit dem Thema befasst. Die alten Griechen, die die Demokratie erfunden haben, waren noch der Ansicht, dass Freiheit kein Gut für alle Menschen, sondern ein Privileg der Gebildeten und der Oberschichten sei. Erst die Französische Revolution hat einen großen Schritt getan, um das allgemeine Volk an der Freiheit teilhaben zu lassen, und heute gibt es in unseren westlichen Demokratien nicht viel, was uns in unserer persönlichen Freiheit einschränkt.
Freiheit hier und dort
Aber diese Freiheit, die in Deutschland ein unantastbares Grundrecht ist, das wir als eine Selbstverständlichkeit hinnehmen, ist für Uiguren alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Zwar genießen laut Verfassung alle chinesischen Bürger – ausdrücklich auch alle ethnischen Minderheiten – Freiheit der Rede, Glaubensfreiheit, Freiheit und Würde der Person, Freiheit und das Geheimnis der Korrespondenz, die Freiheit zur wissenschaftlichen Forschung, zum literarischen und künstlerischen Schaffen und zu anderen kulturellen Betätigungen (Art. 35-47)[1]. Doch in der Realität sieht es ganz anders aus. Uiguren werden immer und überall kontrolliert: an Landstraßen, in Kaufhäusern, in der Eisenbahn, auf dem Mofa, manchmal einfach so. Sie haben keine Freiheit im Gebrauch ihrer Sprache, der Ausübung ihrer Religion, ihrer Arbeit, im Reisen. Selbst für Reisen innerhalb Xinjiangs brauchen sie eine behördliche Genehmigung und einen Pass für Auslandsreisen zu erhalten, wird immer weiter erschwert. Sie werden aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit in vielen Bereichen diskriminiert, sie dürfen keine Versammlungen abhalten, keinen Verein gründen, keinen Bart tragen... Und wer einmal im Gefängnis ist, hat wenig Aussicht auf einen fairen Prozess.
Freiheit des Denkens
In Deutschland dagegen fühlen sie sich frei, denn hier dürfen sie tun und denken, was sie wollen, und offen aussprechen, was sie denken, ohne dafür verhaftet zu werden. Die Freiheit des Denkens ist in der Tat ein Schatz, den man nicht unterschätzen darf. Ich bin damit aufgewachsen, aber ich weiß, dass auch hier viele Menschen nicht frei denken, und das nicht weil es ihnen verboten ist, sondern weil sie es nicht können. Mir hat ein Lehrer in der Sexta des Gymnasiums gesagt: „Ihr seid hier nicht in erster Linie, um Mathematik und Latein zu lernen, sondern um Denken zu lernen.“ Fragen stellen, ausprobieren, Lösungen suchen, Hintergründe analysieren, andere Sichtweisen zulassen oder stichhaltige Argumente vorbringen, diskutieren. Wer nie aufgefordert wird, sich selbst Gedanken zu machen, Thesen zu hinterfragen, eine eigene Meinung zu entwickeln, Möglichkeiten abzuwägen, um zu einer Überzeugung zu kommen, sondern immer nur nach-denkt, was andere vorgedacht haben, der kann es auch als Erwachsener nicht. Wir pochen gern auf unser Recht auf Freiheit, aber von der Freiheit des Denkens machen sehr, sehr viele Leute keinen Gebrauch – und sie merken es nicht einmal. Sie lassen sich dahintreiben von den gängigen Meinungen anderer, von Nachrichten und Werbung, Bequemlichkeit und Egoismus.
In China ist freies Denken – so glaube ich zumindest nach dem, was man mir erzählt hat – kaum möglich und auch gar nicht erwünscht. Schüler nehmen passiv am Unterricht teil, lernen Regeln und Texte routinemäßig auswendig, ohne jemals nach der Bedeutung des Erlernten gefragt zu werden. Lernen ist zum Prüfung-Bestehen da, nicht zum Verstehen oder zur Persönlichkeitsentfaltung, denn die Menschen sind leichter zu regieren, wenn sie alle gleich sind und gleich denken. So bleiben Schüler geistig unselbstständig, können keine Eigeninitiative und Kreativität entwickeln.[2] Für uigurische Kinder kommt neben dem chinesischen Erziehungssystem noch hinzu, dass viele Familien in alten Traditionen gefangen sind und ungern die Sicherheit des Vertrauten verlassen. Zum einen mag es daran liegen, dass in der frühen nomadischen Gesellschaft alle Mitglieder eng zusammenhalten mussten, um in der widrigen Natur überleben zu können. Sie waren aufeinander angewiesen, mussten alle zusammen den gleichen Weg gehen. Anders zu sein und einen eigenen Weg einzuschlagen, wäre lebensbedrohlich gewesen.[3] Zum anderen versuchen sie vielleicht, sich durch ihre Traditionen von der chinesischen Dominanz abzugrenzen und deshalb besonders fest an ihren eigenen Bräuchen und Werten festzuhalten.
Für die Uiguren, die nach Deutschland kommen, ist Freiheit also etwas ganz Neues, geradezu erschütternd. Denn erst jetzt sehen sie, was sie bisher nicht hatten. Und sie ist enorm verlockend, diese allgegenwärtige Freiheit. Sie sinnvoll zu nutzen, ist allerdings gar nicht einfach, wenn man es nicht gelernt hat. Neurobiologisch gesehen ist es so: Wir Menschen können nur etwas lernen, wenn es in unserem Gehirn einen Anknüpfungspunkt gibt. [4] Wurde eine der im frühkindlichen Gehirn angelegten Verknüpfungen nie genutzt, stirbt sie ab und kann nicht wiederbelebt werden. Wenn dann der Mensch eine neue Erfahrung macht, zu der es keine Anknüpfungsmöglichkeit in seinem Gehirn gibt, dann sagt er: „So ein Unsinn!“ und schiebt es von sich fort. Wenn er aber irgendwann einmal, vielleicht vor langer, langer Zeit, etwas Ähnliches gehört, gesehen oder erlebt hat, dann kann er die neue Erfahrung nutzen und sagt: „Aha! Ja, das leuchtet mir ein.“ Daher ist es wichtig, dass das Gehirn von Kindheit an komplex genutzt wird. Das bloße Auswendiglernen, das die Schüler in China bis zur Perfektion praktizieren, hat keinerlei Wert für seine Entfaltung, weil dabei keine Verknüpfungen gebildet oder ausgebaut werden. Wenn daher ein junger Mensch, der immer nur bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen auswendig gelernt hat, in den Dschungel der Freiheit einer westlichen Gesellschaft hineingeworfen wird, dann steht er vor einem echten Problem, weil es plötzlich keine vorgefertigten Antworten mehr gibt. Er muss sich ganz allein mit viel Mut und Mühe selbst einen Weg suchen.
Die "neue" Freiheit
Wie leicht kann man sich dann verirren! Man kann über die Stränge schlagen, weil da keine Kontrolle mehr ist, oder sich in sich selbst verkriechen, weil alles so verwirrend und bedrohlich wirkt. Oder man kann sich einer anderen, einer modernen „Diktatur“ unterwerfen, wie es heute überall auf der Welt so, so viele Menschen tun: Der Soziologe Harald Welzer beschreibt in seinem Buch „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“, wie wir uns via Smartphone und PC freiwillig unsere Freiheit nehmen und unsere Zeit stehlen lassen, uns transparent machen und manipulieren lassen. Ja, es kann tatsächlich wie eine Diktatur sein: Die Fülle der Informationen und Kaufangebote, die unzähligen Facebook-, WhatsApp-, WeChat-Freunde, die Angst, etwas zu verpassen, nicht auf dem neuesten Stand zu sein, lenken von der eigenen Seele ab. Natürlich ist es wichtig, anderen Menschen zuzuhören und die Welt mit offenen Augen wahrzunehmen, aber wer nicht in der Flut der Eindrücke ertrinken will, muss sie filtern. Und wer das nicht kann, verliert sich in dieser neuen Art der Diktatur. Denn dann wird die Freiheit, alle sozialen Netzwerke uneingeschränkt nutzen zu dürfen, zu einer Sucht, aus der man sich nicht mehr befreien kann.
Diese Gefahr betrifft uns alle, zumindest die jüngere Generation. Sie ist kein spezielles Problem der Uiguren, die ins westliche Ausland kommen. Ich möchte damit nur andeuten, wie schwer es für sie ist, die neue, unbekannte Freiheit für sich effektiv zu nutzen, denn sie haben ja gleich drei Hindernisse zu überwinden: erstens die Gefahr, sich in einer Welt voll offener Möglichkeiten zu verirren, zweitens die geistige Einengung durch ihre chinesisch-uigurische Erziehung und drittens die unterschwellige Angst vor Überwachung, vor Geheimdienst und Denunzianten, die Angst aufzufallen, etwas Falsches zu sagen, sich und seine Familie in Gefahr zu bringen.
Diese Angst scheinen die meisten Uiguren so sehr verinnerlicht zu haben, dass sie sich, selbst wenn sie für immer im Ausland leben, nicht vollständig davon befreien können. Sie verblasst vielleicht ein wenig, aber trotzdem nimmt sie ihnen die Freiheit, offen über sich und die Probleme ihres Volkes zu sprechen. Ich kann das sehr gut verstehen, aber ich bedaure es auch, weil dadurch unendlich viel individuelles Potenzial verloren geht.
Denjenigen, denen es trotz allem gelungen ist, einen Weg in die Freiheit des Denkens zu finden, und uns dadurch helfen, mehr über ihr Volk und die Zustände in ihrer Heimat zu erfahren, gilt meine
allergrößte Hochachtung.
Und mein Dank.
Ingrid Widiarto
[2]Huang Xiaolang: Von Konfuzius zu Picasso. Kreativitätserziehung in chinesischen Grundschulen.
[3] Nijat Hushur: Wandmalereien als Ausgangspunkt für neues künstlerisches Bewusstsein. Akademiker Verlag
[4] Gerald Hüther: Einführung in die Neurobiologie für Pädagogen, Therapeuten und Lehrer. Audiotorium