Ein Telefongespräch
„Guten Abend, Abdughani, ich wünsche dir ein gesegnetes Ramadan-Fest!“
„Danke, Neyim, das wünsche ich dir auch.“
„Wie geht es dir, was machen die Kinder? Ich würde ihnen ja gern ein kleines Zuckerfest-Geschenk geben, aber leider weiß ich nicht, wie man Geld durchs Telefon schickt.“
„Haha, das macht nichts, Neyim. Aber nett, dass du daran denkst.“
„Eigentlich ist es ja so üblich. Kinder haben doch immer Wünsche, nicht wahr?“
„Ja natürlich, aber lass nur: Sie waren heute bei den Großeltern und wurden schon genug verwöhnt.“
„Gut so. Und wie geht es euch? Hab lange nichts von dir gehört.“
„Ach ja, das tut mir leid, aber ich hatte überhaupt keine Zeit.“
„Genau wie ich. Seit vier Wochen komme ich abends erst spät nach Hause und bin total kaputt.“
„Ich auch. Nach dem Schulunterricht muss ich jeden Abend zur Moschee und Wache halten.“
„Was, du auch?“
„Ja. Du etwa auch? Ich dachte, das sei nur in unserem Dorf so.“
„Nein, auch hier. Jeden Abend muss ich hin! Und gerade in diesem Monat habe ich eine Fortbildung in Pichan, den ganzen Tag lang. Ich fahre morgens 25 Kilometer hin und abends wieder zurück und dann bin ich stundenlang in der Moschee und passe auf, dass sich alle unsere Gläubigen ruhig verhalten... Als ob sich jemals in unserem Dorf ein Gläubiger nicht ruhig verhalten hätte! Lächerlich!“
„Sie haben Angst...“
„Wovor haben sie Angst? Vor Bauern und Handwerkern, die an Allah glauben?“
„Vor radikalen Einflüssen aus dem Ausland. Vor konspirativen Versammlungen.“
„Das ist doch alles Quatsch. Schikane ist das! Sie wollen uns zwingen, unsere eigenen Leute zu bespitzeln. Uns zu ihren Handlangern machen. Sie wollen, dass man uns Lehrern misstraut, Zwietracht säen, wollen sie... Ach, so etwas darf man am Telefon ja gar nicht sagen. Gar nichts darf man sagen. Nur still sein.“
„Besser still sein als im Gefängnis sitzen.“
„Als Lehrer haben wir sowieso keine Wahl: Wir sind Beamte und müssen tun, was die Lokalregierung von uns verlangt. Freitags in der Moschee beten und im Ramadan fasten dürfen wir nicht, aber andere Moslems überwachen, das dürfen wir.“
„Ja, sogar bis spät in die Nacht.“
„Wenn sie uns wenigstens während dieser Zeit die politischen Schulungen am Mittwochnachmittag erlassen würden! Aber nein, Mittwoch ist Mittwoch und am Mittwoch müssen alle Lehrer zur politischen Schulung gehen. So ist es seit Jahr und Tag und so wird es immer sein.“
„Zum Glück nur mittwochs, Neyim. Mein Vater erzählt, dass es früher jeden Tag politische Sitzungen gab und da musste man nicht nur hingehen und das Ende abwarten, sondern man musste sich aktiv und revolutionär zeigen, sich profilieren... sonst wäre es einem selbst an den Kragen gegangen. Für Lehrer war die Kulturrevolution sowieso eine Horrorzeit. Manche wurden von ihren Schülern verleumdet, misshandelt... oder noch schlimmer.“
„Meine Eltern haben nie über diese Zeit gesprochen. Sie wollen nicht daran denken. Vielleicht fürchteten sie noch immer, etwas zu sagen, was niemand wissen darf.“
„Im Ausland weiß man Bescheid, aber unsere Jugend nicht. Die Kinder lernen nur, was die Partei für richtig hält, und so halten sie Mao immer noch für einen guten Mann und haben keine Ahnung von all dem, was er Schlimmes angerichtet hat.“
„Neyim, lass nur. Am Telefon müssen wir vorsichtig sein. Man kann nie wissen, wer mithört.“
Einen Augenblick lang schweigen beide.
„Weißt du, Abdughani, das mit den Mittwochnachmittagen ist eigentlich gar nicht so schlimm: Da hat man endlich mal Zeit, in Ruhe seine Mails zu lesen und zu schreiben oder über gewisse Dinge nachzudenken.“
„Stimmt. Aber letzte Woche saß ich in der ersten Reihe und musste wohl oder übel so tun, als hörte ich aufmerksam auf das, was der Parteisekretär vorlas. Stundenlang.“
„Weißt du, an unserer Schule war letztes Jahr ein Mongole. Ein tüchtiger Mann, hat in Beijing promoviert. Aber an einem Mittwoch hat er sich geweigert, zur politischen Schulung zu gehen, hat einfach gesagt: ‚Ich will heute nicht.‘ Ich glaube, er hatte etwas getrunken, denn sonst war er eigentlich ein ganz stiller Typ. Aber an diesem Tag sagte er einfach ‚Ich will nicht!‘ und ging nach Hause. Am nächsten Tag bekam er seine Entlassungspapiere.“
„Ein Uigure wäre sicher ins Gefängnis gekommen.“
„Vermutlich. Aber der Mongole konnte gehen. Vielleicht hatte es ihm der Parteisekretär nahegelegt oder er hatte es selbst mit der Angst bekommen. Jedenfalls lehrt er jetzt an einer Schule in Zentralchina, wo man sich ein wenig freier fühlen kann als in Xinjiang oder Tibet, aber die politischen Schulungen muss er wahrscheinlich trotzdem jeden Mittwochnachmittag besuchen.“
„Man könnte Sinnvolleres tun.“
„Hm.“
„Noch etwas, Neyim: In letzter Zeit haben mir mehrere Schüler erzählt, dass ihre Handys überprüft wurden. Passiert das bei euch auch? Polizisten kontrollieren, ob sie Bilder oder Filme auf ihrem Handy haben, die etwas mit Islam zu tun haben. Dann könnte man sie nämlich der Verbreitung von religiösem Extremismus beschuldigen und das Telefon beschlagnahmen. Die Jungs nehmen jetzt nur noch alte Handys mit und lassen ihr gutes Smartphone zu Hause.“
„Ich hab davon gehört, ja. Ich weiß nicht, ob unsere Polizei das auch macht, aber es soll in Hotan schon vorgekommen sein, dass sie nicht nur das Telefon, sondern auch den Besitzer mitnehmen und einsperren. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber es könnte schon sein.“
„Ja. Zumindest kann es eine Ohrfeige setzen. Ein Bekannter von mir hat mit eigenen Augen gesehen, wie ein Polizist einen Jungen ohrfeigte, nicht nur einmal – mehrmals! Und dieser Polizist war selbst nicht viel älter als der Junge mit dem Handy, der vollkommen verdattert dastand und vor Angst keinen Mucks von sich gab.“
„Man muss also seine Mail-Anhänge und WeChat-Nachrichten sorgfältig prüfen, ob da nicht vielleicht etwas drin ist, was man als religiösen Extremismus auslegen könnte, wenn man es unbedingt will. Vielleicht ein Mann mit Bart...“
Abdughani lacht.
„Bist du nicht selbst bald alt genug, um einen Bart tragen zu dürfen, Abdughani? Weißt du, ab welchem Alter es erlaubt ist?“
„Du machst Witze, mein Freund! Die Verfassung garantiert uns zwar Glaubensfreiheit, auch Freiheit und Würde der Person – aber ein Lehrer darf keinen Bart tragen, egal, wie alt er ist. Man würde ihm radikalen Islamismus unterstellen. Ach ja, so ist es nun einmal in unserem Land und deshalb, lass uns lieber das Gespräch beenden. Sonst kriegen wir womöglich noch Besuch vom Geheimdienst und ich bin wirklich müde nach diesem langen Tag.“
„Zum Glück ist es morgen vorbei, Abdughani. Dann haben wir wieder Moschee-frei und können den Abend zu Hause verbringen.“
„Ja, lass uns immer positiv bleiben, mein Freund. Es nützt doch ohnehin alles nichts.“
„Da hast du Recht. Außerdem haben wir ja bald zwei Wochen Sommerferien. Zwar gibt’s auch in den Sommerferien ab und zu politische Schulungen...“
„Nun hör aber auf, Neyim! Geh lieber schlafen und ruh dich aus! Und danke für deinen Anruf.“
„Dir auch eine gute Nacht, Abdughani. Grüße an deine Familie.“
„Allah sei mit dir, mein Freund.“