Die Neue Seidenstraße
China, das sich früher selbst als das „Reich der Mitte“ sah, möchte auch heute wieder zum Reich der Mitte werden und arbeitet seit Jahren zielstrebig darauf hin.
Jahrhundertelang war die alte Seidenstraße die wichtigste Route für Chinas Welthandel. Seit der Ming-Dynastie hatte sich China weitgehend auf sich selbst zurückgezogen, später begannen ausländische Mächte es auszubeuten und dann verhinderten Maos Massenkampagnen eine sinnvolle wirtschaftliche Entwicklung. Danach aber erwachte der Geschäftssinn der Chinesen von Neuem. Schnell lernten sie vom kapitalistischen Westen und schon bald war vom sozialistischen Idealismus nicht viel mehr übrig geblieben als die Theorie.
Seit 2013 treibt Staatspräsident Xi Jinping das Projekt „One Belt, One Road” (OBOR), das Ostasien, Zentralasien, Eurasien, Europa und den Mittleren Osten über neue Verkehrswege miteinander verbinden soll, mit Macht voran. Xinjiang (Ostturkestan) ist für China dabei das Tor zum Westen, also ein Herzstück dieser Neuen Seidenstraße.
Schon in den 1950er Jahren hatte die Zentralregierung begonnen, die Infrastruktur in Xinjiang auszubauen, um den Abbau von Bodenschätzen und die Industrialisierung zu erleichtern. Die Wirtschaft wuchs und der Lebensstandard stieg – jedoch hauptsächlich für die aus dem Osten zugewanderten Han-Chinesen, nicht für die ansässigen Uiguren. Sie bekamen kaum einen Arbeitsplatz in Staatsunternehmen und allenfalls pro forma ein Mitspracherecht bei Entscheidungen. Bis heute liegt daher die Armutsrate in den Gebieten der ethnischen Minderheiten (vor allem der Uiguren, Tibeter und Mongolen) erheblich über der in Ostchina.
Bereits 1990 wurde eine durchgehende Bahnverbindung zwischen den ostchinesischen Häfen und Rotterdam geplant. Ein Abschnitt von Urumchi zur kasachischen Grenze war 1992 fertig und die schon seit 1966 bestehende Strecke zwischen Lanzhou und Urumchi wurde für moderne Schnellzüge umgerüstet. Auch weitere Eisenbahnstrecken und Fernstraßen sind seitdem gebaut worden.
Anders als bei der Annexion von Inselgrüppchen im Gelben Meer betrachten viele Länder das Projekt Neue Seidenstraße mit Wohlwollen, denn auch sie können davon profitieren. Kaum ein Staat möchte seine Chance verpassen. Die eigens dafür gegründete Asiatische Infrastrukturinvestmentbank stellt immense Summen bereit für Autobahnen, Bahnlinien, Gasleitungen, auch Häfen für die „Maritime Silk Road“ (MSR). Der Ausbau geht schnell voran: Zum Beispiel hat China in Griechenland den Hafen von Piräus gekauft und richtet nun seine Pläne auf die Ostsee. In Duisburg treffen 2108 schon täglich mehr als hundert lange Güterzüge aus Ostchina ein.
Mit der Neuen Seidenstraße plant China aber nicht nur seinen wirtschaftlichen Gewinn zu steigern, sondern auch sich neue Einflusssphären in Europa zu erschließen. Und ganz sicher will es den festen Griff, mit dem es Xinjiang in der Hand hält, noch fester schließen. Offiziell heißt es, dass das Projekt dem fernab gelegenen Land zukunftsweisende Bedeutung und Wohlstand bringen soll, aber in Wirklichkeit könnten die neuen Investitionen aufgrund des internationalen Mit-Interesses womöglich die wirtschaftliche Diskriminierung der Uiguren und die daraus resultierenden ethnischen Spannungen weiter verschärfen.
Seit der Besetzung durch die Volksbefreiungsarmee haben Entwicklung und Fortschritt immer den Interessen von Staat und Partei gedient, nicht der einheimischen Bevölkerung. Je wichtiger Xinjiang für China, desto höher der Druck auf die Uiguren. Sie wurden und werden politisch, wirtschaftlich und kulturell an den Rand gedrängt, sofern sie sich nicht vollständig assimilieren. Am liebsten wäre der Regierung die Verschmelzung sämtlicher ethnischer Gruppen der Volksrepublik zu einem homogenen Volk, doch die Uiguren möchten ihre Identität bewahren. Sie lieben ihre Kultur, Sprache und Religion und immer stärkere wirtschaftliche Diskriminierung und immer schärfere Überwachung sind nicht geeignet, die soziale Lage in Xinjiang zu stabilisieren. Für viele ist daher die Neue Seidenstraße von Vorteil, aber nicht unbedingt für die Uiguren.